„Hilfe zu suchen … [Gastbeitrag]

… und Dinge einfach so zu akzeptieren – das ist Mut.“ So fing die Mail an, die mir Steffi geschickt hat. Natürlich bin ich bereit, auch ihren Gastbeitrag bei mir zu veröffentlichen. Warum auch nicht? Nach wie vor ist das Credo: Reden wir drüber und verschweigen es nicht. Zeigen wir anderen, dass es noch mehr Menschen mit ähnlichen Problemen und Symptomen gibt. Steffi – Gefühlsmensch, Herzmensch, Musikmensch – durch und durch nicht der Krankheit erlegen. Ich ziehe den Hut, weil sie es schafft, IHREN Weg zu gehen. Den Weg, den sie eigentlich will. Mit allen Hürden. Weg vom festen Ufer, der Sicherheit …

„Dann ist ja das Auto kaputt. Na toll, dein Mann wird sich bedanken. Als hätte er nicht ohnehin schon genug Sorgen. Und die Kinder? Denen willst du doch wohl nicht so eine Bürde auf ihren Lebensweg mitgeben!“ Hauptsächlich diese Gedanken waren es, die mich Ende April 2015 davon abhielten, mir das Leben zu nehmen. Dazu Angst vor möglichen Schmerzen, die ich durchleben würde, bevor es zu Ende war. Ich bin ein Schisser. Und das Gefühl, noch dieses Unbekannte (er-) leben zu wollen, das mich so lockte und nicht zur Ruhe kommen lies. Es war Schuld war an diesem Gedanken- und Gefühlswirrwarr, das mich so fertig machte. Ich war wohl noch nicht soweit, noch nicht ganz unten, obwohl es sich verdammt danach anfühlte.

Vielleicht war es so etwas wie ein Nervenzusammenbruch. Ich saß weinend und völlig regungslos im Zimmer meines fast eineinhalbjährigen Sohnes. Er musste gewickelt werden, weinte, wollte in den Arm genommen und getröstet werden. Ich wusste das, ich nahm es wahr- und konnte dennoch nicht handeln. Ich war unfähig, mich zu bewegen, obwohl ich es wollte. Ich war unfähig, mein Kind zu versorgen. Und ich hatte diese Selbstmordgedanken. Ich dachte, es wäre für alle besser, ich würde meinem Leben ein Ende setzen.

Stattdessen nahm ich meine letzte Kraft zusammen und ging zum Arzt. Der wies mich in eine Psychosomatische Rehaklinik ein. Ich wusste gar nicht, dass das möglich ist. Zwei Wochen später konnte ich dort bereits aufgenommen werden. Sieben Wochen blieb ich dort, machte Psychotherapie, Sport, Gruppengespräche. Ich arbeitete einige Dinge meiner Kindheit auf, meine derzeitige Ehekrise, die sich irgendwie fast unbemerkt in unseren Alltag geschlichen hatte und immer mehr Platz einnahm. Und fing an zu akzeptieren, was unausweichlich war: mein Leben würde sich radikal verändern. Denn ich hatte endlich verstanden, dass ich bisexuell bin.

Ich hatte mich immer als „Homo- Unterstützer“ verstanden. Hatte mit lesbischen Freundinnen und schwulen Bekannten stets offen, interessiert, ermunternd gesprochen, hatte sämtliche Petitionen zur „Ehe für alle“ unterzeichnet und meine Meinung zum Thema Gleichheit kundgetan, wo immer sie erwünscht und auch unerwünscht war. Dass es mich selbst einmal betreffen würde – darauf wäre ich niemals gekommen.

Im Nachhinein betrachtet erscheint vieles klarer; waren da bereits früher Anzeichen, die ich hätte deuten können. Vielleicht war da eine innere Sperre, vielleicht war ich einfach naiv. Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich nach etwa einem Jahr Grübelei, Zweifeln und vielen Gesprächen mit Vertrauten im Februar dieses Jahres endlich erkannt, dass ich bisexuell bin. Ich hatte es erkannt und mir eingestanden, weil ich mich in meine Freundin verliebt hatte. Vermutlich war die Ehekrise Wegbereiter dafür und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich es endlich erkennen würde.

Vor meinem Zusammenbruch hatte ich zunächst mit meinem Mann über meine neuen Gefühle gesprochen. Mit meiner Neigung an sich hatte er kein Problem. Wohl aber mit der für uns beide neuen Erkenntnis, dass mir etwas fehlte, wenn ich meine Liebe zu Frauen nicht auch leben könnte. Dann sprach ich mit der betreffenden Freundin. Wie erwartet erwiderte sie meine Gefühle nicht, hatte aber so etwas schon lange geahnt. Mir war unheimlich wichtig, dass zumindest unsere Freundschaft diese Situation überstand.

Auch ansonsten wollte ich nichts ändern. Es fiel mir gar nicht ein, dass das nötig und möglich sein könnte. Ich war mit einem großartigen Mann verheiratet. Er gefiel mir optisch, charakterlich, wir hatten übereinstimmende Lebensziele und die auch innerhalb der letzten vier Jahre größtenteils erfüllt. Vielleicht ging das etwas zu schnell und war mit zu viel Stress verbunden. Unsere Krise könnten wir überwinden, da war ich sicher. Wir hatten zwei süße, gesunde Kinder bekommen, ein kleines Häuschen mit überschaubarem Garten, einen Hund. Ich hatte alles, was ich mir immer gewünscht hatte, und doch war ich nicht glücklich.

Stattdessen hielt ich nun eine Einweisung in der Hand: „Mittelgradige bis schwere depressive Episode und Anpassungsstörung“ stand darauf. Wie sich das anhörte: „Anpassungsstörung“! Menschenverachtend, fand ich. Und „Depressive Episode“? Sicher hatte mein Arzt ein klein wenig übertrieben, dachte ich, damit ich diesen Klinikaufenthalt, den ich zweifellos brauchte, auch bekam. Innerlich dankte ich ihm inständig. Dass ich wirklich eine hatte, wurde mir jedoch erst nach etwa zwei bis drei Wochen in der Klinik klar. Schlagartig.

Dort hatte ich endlich mal Zeit. Zeit zum Denken, zum Sortieren. Zuhause fand durch die beiden Kinder eine permanente Ansprache statt, ich wurde dauernd gebraucht. Eins weinte und brauchte Trost, das andere musste gewickelt werden. Seit vier Jahren konnte ich kaum eine Nacht durchschlafen. Tagsüber unterbrachen ständige „Mama? Mama!“- Rufe meine Gedanken. Ich hatte das Gefühl, nur noch Sauerkraut im Kopf zu haben, war ständig müde, gereizt, genervt, wollte nur noch weg, hatte ein schlechtes Gewissen.

Nach der Reha hatte ich einige der Dinge akzeptiert, die unausweichlich waren. Mein Mann und ich beschlossen, uns zu trennen und in freundschaftlichem Kontakt zu bleiben. Die Kinder würden aus guten Gründen bei ihm bleiben. Ich würde mir im gleichen Dorf eine Wohnung suchen und ihn mit den Kindern unterstützen. So hätte ich auch die Möglichkeit, sie regelmäßig zu sehen und unser inniges Verhältnis zu erhalten. Das alles war und ist schmerzhaft, aber es gibt keine Alternative.

Mit meiner sexuellen Orientierung gehe ich offen um. Nach und nach outete ich mich in meiner Familie und im Freundeskreis. Nicht weil ich denke, es jemandem schuldig zu sein, sondern weil es mir selbst damit am besten geht.
Wenn ich meine Geschichte erzähle, bekomme ich manchmal die Rückmeldung, mein Verhalten sei mutig. Damit ist sowohl die Offenheit im Gespräch gemeint als auch die Veränderungen anzugehen, die nun fällig sind.

Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, was daran mutig sein soll. Für mich fühlt es sich ganz klar so an, dass ich gar keine andere Wahl habe. Ich MUSS darüber sprechen, weil es mir damit besser geht. Ich MUSS die Veränderungen durchführen, weil es UNS damit besser geht, zumindest auf lange Sicht gesehen. Zur Zeit ist es noch so, dass mein Gemütszustand oft schwankt. Ich bin gefühlsmäßig instabil, will mal das Eine, mal das Andere. Ich durchlebe Höhen, in denen ich mir sicher bin, das alles irgendwie hinzukriegen. Und Tiefen, die dank eines Antidepressivums zwar schmerzhaft sind, mich jedoch nicht mehr über Selbstmord nachdenken lassen.

Mit das Wichtigste ist es für mich, Freunde zu haben, die selbst Depressionen erlebt haben und wissen, dass es manchmal das Beste ist, nichts zu sagen. Sätze wie „Nichts rechtfertigt Selbstmord“ oder „Es geht immer irgendwie weiter“ sind meist Zeichen der eigenen Hilflosigkeit. Ich habe solche leeren Phrasen leider selbst oft genug zu anderen gesagt. So sehr man sich auch bemüht, man kann Depressive einfach nicht verstehen, so lange man nicht selbst über den Rand geschaut hat. Und Depressive wissen das.

Einfach nur da zu sein, kein Gespräch zu erwarten. Schweigen können, ohne sich dabei seltsam zu fühlen. Wenn Gespräche dann doch stattfinden, sie auszuhalten, seine Meinung offen zu sagen, Fragen mutig zu stellen und sich die Antwort anzuhören, ohne zu urteilen. DAS ist es, was mir hilft.

Ich danke Markus Bock dafür, dass ich das alles hier aufschreiben durfte. Ich führe damit meinen Weg der Offenheit weiter; ich oute mich als bisexuell und als depressiv. Ich möchte anderen Mut zusprechen, sich Hilfe zu holen und offen mit dem Thema Depression umzugehen. Es ist keine Schande, depressiv zu sein. Es ist auch keine Schande, bisexuell zu sein. Sich einzugestehen, dass man Dinge in seinem Leben ändern muss, um die Chance auf Glück zu haben, ist keine Schwäche.

Sich einzugestehen, nicht immer stark sein zu können, ist keine Schwäche. Und ich möchte diesen Weg auch nutzen, um mich bei diesen vielen tollen Menschen zu bedanken, mit denen ich schon früh offen über diese Themen sprechen konnte und kann. Die meisten habe ich bei Twitter kennengelernt, die wenigsten davon kenne ich inzwischen persönlich. Diejenigen, die ich meine, werden sich zurecht angesprochen fühlen, Markus eingeschlossen. Ihr habt dazu beigetragen, dass ich mich selbst ernst genug genommen habe, um mir Hilfe zu suchen. Ihr habt dazu beigetragen, dass ich mich nicht alleine fühlte. Ihr habt mir geholfen, zu leben.

Danke!

… braucht es mehr Worte? Nein …

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