Mut ist, wenn … [Gastbeitrag]

… du irgendwann die Worte für deine Situation findest. Wenn du erkennst, dass gerade etwas nicht richtig läuft. Mut ist, wenn du versuchst mit jemandem zu sprechen, der Depressionen selbst erlebt. Und es ist auch Mut, Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn du noch gar nicht weißt, wo der Weg hingehen soll. Nicht alles erscheint logisch. Nicht immer gibt es den „großen Auslöser“, der die Depression erklärt. Leider. Um so schöner ist es, wenn Menschen ein Stück weit zur Aufklärung beitragen und über sich reden können, wie Martin. … Blogger, Twitterer, Betroffener, Mensch …

Depressionen? Ein großes Wort. „Das sind doch keine Depressionen.“ und „Klar stimmt da was mit dir nicht, aber Depressionen sind das nicht.“ waren Sätze, die mir immer wieder durch den Kopf gingen. Auch wenn ich heute immer noch oft von meinen „Depri­phasen“ spreche und mich vor dem Wort „Depression“ immer noch scheue, so bin ich auf dem Weg dazu, mir einzugestehen, dass ich unter Depressionen leide.

Bei mir ging es nach dem Wechsel auf das Gymnasium los. Viele Selbstzweifel, keiner mit dem ich wirklich reden konnte/wollte, ein allmähliches Reinfressen aller Sorgen und dazu noch ein paar „falsche Vorbilder“. Der Grundstein war gelegt. Der Tropfen, der das Fass dann endgültig zum Überlaufen brachte, war das Ende der Schulzeit und der Anfang des Studiums. Zukunftsängste, Ungewissheit, eigene Wohnung, eine gewünschte neue Rolle in der Familie, mehr Selbstständigkeit und all diese Veränderungen haben mich komplett überfordert. Das führte dann dazu, dass die Leere und das Dasitzen mit leerem Blick schließlich in Selbstverletzung durch Schläge an den Kopf umschlug. Hauptsache Schmerzen.

Bei mir war es allerdings nicht so, dass ich tagelang nicht aus dem Bett gekommen bin, versucht habe mich umzubringen oder unter Essstörungen litt. Und diese Symptome stehen ja so ziemlich auf jeder Informationsseite zu Depressionen. Also hatte ich keine? Ich habe mich gefragt, ob es normal ist, dass man darüber nachdenkt, sich umzubringen und wie man es machen könnte. Es war bei mir aber nie so konkret, dass ich gedacht habe: Jetzt mache ich es. Es kam immer wieder der Gedanke: Das kannst du deinen Eltern/Großeltern nicht antun. Sie lieben dich! Zum Glück. Denn ich weiß nicht, was sonst passiert wäre. Und auch so war mein Tagesablauf eigentlich immer geregelt und ich habe mich nie „gehen lassen“. Das war eine Fassade für die Umwelt und gleichzeitig auch eine Ausrede für mich. Passt schon alles.

Aber irgendwas stimmt mit mir nicht. Das habe ich schon ziemlich zeitig gemerkt. „Ach, das ist nur die Pubertät.“ und „Du kannst doch nicht psychisch krank sein. Du hattest ne gute Kindheit, liebe Eltern und alles, was du gebraucht hast. Da kann nichts sein.“ Aber gleichzeitig war da das Gefühl, dass das alles nicht normal ist. Ich hatte schon länger den Plan mir Hilfe zu suchen, aber letztlich kam immer auch ein (gedachtes) Hindernis oder eine konstruierte Ausrede: Die Familie darf nichts erfahren, sei nicht so schwach , du packst das auch allein und so weiter. Auch nach meinem Auszug war da noch die Hemmschwelle: Das sind doch keine Depressionen. Die haben doch so viel schlimmere Patienten. Die lachen dich bestimmt nur aus, wenn du da hingehst. Also habe ich es weiterhin versucht irgendwie selbst zu regeln. Ich habe Kontakt mit anderen Leuten (wie zum Beispiel dem lieben Autor dieses Blogs) gesucht und ich habe meinen Blog gestartet. Auch meine Freundin und ihre Mutter haben versucht, mir zu helfen. Doch leider ohne Erfolg. Schließlich habe ich mich zuerst an den Psychosozialen Dienst (immer eine gute erste Anlaufstelle) gewendet. Dort habe ich eine Liste mit Psychologen in meiner Nähe und das Angebot für überbrückende psychologische Hilfe bis zum ersten Termin beim „richtigen“ Psychologen bekommen. Ich habe diese dann aber nicht in Anspruch genommen, weil ich mich bei einem Ausbildungsinstitut für Psychologen um einen Termin bemüht hatte und es an solchen Instituten viel schneller geht, einen Termin zu bekommen als bei einem richtigen Psychologen. Und Anfang diesen Jahres war es dann soweit. Aufnahmegespräch Mitte Januar und Anfang Februar dann das erste Treffen mit der Psychologin.

Nun bin ich seit einem guten halben Jahr in Behandlung und es geht mir eindeutig besser. Das wichtigste an einer Behandlung ist jedoch, dass man sich bewusst macht, dass Psychologen keine „Depressionenwegzauberer“ sind, sondern im Prinzip nur ein Lehrer. Man arbeitet sich dann in jeder Sitzung ein Stück weit von außen nach innen. Zuerst betrachtet man das Verhalten, dann die Gedanken dabei und schließlich (an dem Punkt bin ich gerade) die grundlegenden Einstellungen. Auch die Geschichte wird immer wieder ein Stück weit aufgearbeitet. Aber letztlich sind die Sitzungen beim Psychologen nur die „Schulstunden“. Man bekommt ein bisschen Wissen über die menschliche Psyche, Fragen werden aufgeworfen und „Hausaufgaben“ erteilt. Der eigentliche Veränderungsprozess muss in einem selbst stattfinden. Und das zwischen den Sitzungen. Nur dann bringt das alles etwas. Eine ebenfalls wichtige Tugend ist Geduld. Man darf sich nicht von kleinen oder größeren Rückschlägen entmutigen lassen und darf auch nicht erwarten, dass man nach drei Sitzungen die jahrelang angehäuften Probleme erledigt hat. Etwas, das mir auch sehr schwer fällt. Auch die Gewissheit, dass man nie vor den Problemen 100% befreit ist, sondern das ganze Leben damit rechnen muss, dass es wieder passiert, ist irgendwie nicht gerade erfreulich. Aber letztlich ist es so und ich habe jetzt ein gewisses Handwerkszeug, was mir beim Umgang mit solchen problematischen Phasen helfen kann. Und um es positiv zu sehen: Zu wenig Selbstkritik und eine Selbstüberschätzung wird es bei mir wohl nicht so schnell geben.

Das ist meine Geschichte. Eine von vielen. Eine Art von Depressionen. Es gibt noch viele andere. Genetisch bedingte, tief in der Kinderheit verwurzelte, ernährunsbedingte,etc.. Meine Depression ist vielleicht nicht so „schlimm“ wie andere, aber auch sie beeinträchtigt die Lebensqualität. Wie jede Art von psychischer Störung. Oder jede Grippe. Auch da geht man zum Arzt und lässt sich etwas verschreiben. Warum sollte man sich also nicht auch Hilfe bei psychischen Dingen holen? Jeder, der ein „Problem“ hat, dem er allein einfach nicht Herr wird, der kann sich Hilfe suchen. Auch wenn es nicht so schlimm ist. Warum erst warten bis alles zu viel wird? Das Leben will gelebt werden. Mit der höchstmöglichen Lebensqualität. Und sich Hilfe zu holen ist kein Zeichen von Schwäche. Sondern von Stärke. Der Stärke, dass man seine eigenen Grenzen erkannt hat.

… eine Geschichte von vielen. Es ist ein wichtiger Teil für das Netz der Menschen, die an Depressionen und deren Begleiterscheinungen leiden. Eine Stimme für die, die nicht sprechen können und wollen. Danke für die offenen Worte und das Vertrauen! Danke Martin!

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3 Kommentare

  1. Hey du,
    das ist ein wirklich toller und eindringlicher Post. Ich habe ihn eben ganz begeistert gelesen und ich kann nur zustimmen! Leider ist es immer noch ein „Stigma“ eine psychische Erkrankung zu haben, aber je mehr Menschen damit so umgehen, wie hier beschrieben, wird es bestimmt irgendwann besser werden. Und wenn nicht? Dann ist es auch so, denn die Menschen, die einen in Schubladen stecken oder meinen „so schlimm ist das doch nicht“ führen nicht unser Leben. Also lassen wir ihnen doch ihre Meinung und verhalten uns gut…vorallem für uns selbst!
    Liebe Grüße, die Überlebenskünstlerin

    1. Da kann ich generell zustimmen. Wir werden mit „offenen Worten“ die Gesellschaft und ihr Schubladendenken nicht ändern, aber wir können die heranwachsende Generation sensibilisieren und etwas „Aufklärung und Halt“ geben. Ob mit ähnlichen Erlebnissen oder auch völlig unterschiedlichen – jeder erlebt seine Situation ja anders. Unterm Strich bleibt aber stehen: Niemand muss mit seiner Krankheit allein stehenbleiben, wenn er für sich etwas Mut hat und sich informiert, liest, spricht.

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