Lasst meinen Rucksack in Ruhe!

Der große Vorteil von einfühlsamen und interessierten Menschen? Sie beenden das Gespräch nicht mit: „Ja, so hat jeder sein Päckchen zu tragen.“ Es liegt doch auf der Hand, dass jeder Smalltalk damit abgebrochen ist. Es geht aber auch noch anders: „Ist doch gar nicht so schlimm. Ach, das wird schon wieder.“ Ich möchte noch ein bisschen beim besagten Päckchen bleiben. Ja, jeder trägt ein Päckchen. Der eine ein größeres, der andere ein kleineres, manch einer gerade gar keins. Wer urteilt denn über die Größe des Päckchens? Jeder selbst! Vielleicht trage ich gerade ein kleines – aber viel schwereres – Päckchen. Vielleicht ist deins ja groß und nicht so schwer? Das siehst du eben nicht von außen. Das erfährst du nur, wenn du vorsichtig nachfragst. Dann hast du die Möglichkeit, einen Blick in mein Paket zu werfen – wenn ich dich lasse. Erst dann hast du die Möglichkeit zu erfahren, wie schwer meine Last ist. Ich habe aber zum Glück kein Päckchen! Wieso nicht?

Ich brauche meine Hände!

Wenn ich ein Päckchen trage, benutze ich meine Hände. Wenn ich meine Hände benutze, kann ich nichts anderes machen. Wenn ich nichts machen kann, bin ich also nur auf das Paket fixiert. In manchen Phasen meines Lebens konnte ich dieses Paket nicht mal irgendwo abstellen und reingucken – aber daran denken (und zerdenken!), das konnte ich. Und wenn du dieses Päckchen ständig in der Hand hast, zieht es dich nach vorne runter. Du gehst mit der Last im Arm immer mehr in gebückter Haltung. Da das Rumschleppen mitunter sehr anstrengend war, habe ich mich entschieden, mich nicht mehr mit Paketen in der Hand abzuschleppen. Ich habe mir einen Rucksack zugelegt. Was ich mit einem Rucksack will?

Tragen. Genauso. Nur kann ich mich entscheiden, dass ich den aufsetze. Meine Hände sind frei und ich habe den ganzen Ballast auf dem Rücken. Immerhin zieht er mich nicht runter, sondern hoch und ich stehe gerade. Faszinierend, oder? Mit freien Händen bin ich noch handlungsfähig, kann mich von dem erdrückenden Ballast etwas befreien, oder ich lasse ihn außer acht und ich kümmere mich um andere Dinge. Nein, aus den Augen ist er nicht. Er ist da und ich merke ihn. Er hängt ja schließlich an mir. Doch ich bin etwas freier. Und da erkennst du auch den Wert der Freiheit – nicht gebundene Hände sind Freiheit.

Finger weg von meinem Rucksack!

Viele Menschen verstehen nicht, dass dieser Rucksack mir gehört. Ich entscheide, was ich da reintue – oder wieder rausnehme. Mein Rucksack ist mein Gepäck. Und doch gibt es Menschen, die sich anschleichen, den Reißverschluss aufmachen und mir ihren Müll reintun. Ja, richtig! Sie stopfen mir ihre Scheiße da rein, die ich dann mittragen darf. Ich kann das nicht gebrauchen! Tragt es doch bitte zwischendurch mal alleine. Oder respektiert wenigstens, dass er mir im Moment selbst zu schwer ist. Das wäre wenigstens etwas. Ich habe mein Tempo gefunden und gehe seit Jahren vorwärts – jetzt gerade etwas schneller, weil ich eine wundervolle Aufgabe gefunden habe. Mit der Aufgabe werde ich meinen überflüssigen Kram aus dem Rucksack los. Und dann kommst du, oder ihr, oder wer auch immer, und stecken mich voll, damit ich ja wieder langsamer werde. Ich muss nicht immer respektieren, dass jemand was von mir möchte – ich darf mich abgrenzen, um mal Luft zu haben. Ich muss nicht immer in Kontakt sein – ich darf auch mal leise und für mich sein. Ich muss nicht alles machen, was sich jemand wünscht – Wünsche müssen nicht erfüllt werden, sie können es. Ich werde keine wortlosen Erwartungen (und auch keine, die ich im Moment als zu viel sehe) mehr erfüllen – denn ich kann selbst entscheiden, was und wie ich es mache. Ich werde meine Freiheit nicht mehr hergeben – ich gewinne sie noch immer Stück für Stück. Lasst also die Finger von meinem Rucksack! Vielleicht tausche ich zwischendurch was aus, dennoch soll er leerer werden. Ja, ich kann auch akzeptieren, dass ich ein paar Brocken noch etwas länger tragen muss – dafür bin ich stark genug.

Rechne mit einer Reaktion

Wenn ich mitbekomme, dass mir jemand etwas rein getan hat, werde ich reagieren. Ich habe keine Lust mehr, mich unterzuordnen, mich anzupassen, nach jeder Nase zu tanzen und mich dem Willen anderer Menschen hinzugeben. Wenn ich mich distanziere, schaffe ich nur eine Grenze zu mir, um für mich selbst zu sorgen. Ich habe keine Lust mehr, Zeit und Kraft zu verschwenden, die ich für mich selbst brauche. Ich habe für mich und meinen Rucksack zu sorgen. Das bedeutet auch, dass ich einen Moment allein wandern muss, damit ich unterwegs immer wieder was rauspacken kann – von anderen Erwartungen, nicht von meinen. Meine Erwartung habe ich immer bei mir: Mir selbst zu genügen, mich zu mögen und für mich zu sorgen. Wenn du also heimlich Grenzen überschreiten musst, werde ich darauf reagieren müssen.

Verfehle nicht das Ziel

Mache ich es nicht, habe ich nicht nur einen vollen Rucksack, sondern in den Händen wieder ein Paket. Dann bin ich wieder da, wo ich nicht mehr sein möchte. Hände voll, nicht handlungsfähig, ausgeliefert. Mir und meinen Gedanken. Mir und meinem Päckchen. Das eigentlich Ziel? Weiterlaufen mit wenig Gepäck. Vielleicht setze ich diesen Rucksack nie ab, aber ich kann dafür sorgen, dass er nicht so voll ist.

Wie es wohl ist, wenn ich eine Strecke völlig ohne Inhalte laufen könnte? Wie es wohl wäre, wenn ich aufrecht laufen kann, ohne dass mich der Ballast in Waage halten muss? Ich werde es erfahren. Vielleicht.

Ein Update …

Ich habe den letzten Absatz gestrichen. Es gibt kein Paket mehr. Ich habe nur noch meinen Rucksack. Nein, nicht nur einen. Ich habe mehrere. Ich bin ein Taschennarr. Aber ich habe mittlerweile immer die richtigen Werkzeuge darin, Problemsituationen für mich aufzulösen. Manchmal brauche ich ein paar Tage. Und wenn es nicht klappt, nehme ich mein Notizbuch und einen Stift raus, schreibe darauf los und mache meinen Kopf frei. Was bleibt ist: Ich entscheide, was in meinem Rucksack drin ist. Ja, in der kleinen Innentasche steckt immer noch ein Teil der Depression. Sie wird mich sicher noch begleiten. Und ich werde mich auch sicher noch dazu verleiten lassen, in diese kleine Tasche zu fassen und sie rauszuholen. Doch im großen Fach sind genug Mittel, damit ich sie wieder zurückstecken kann. Es bleibt auch, dass ich mir nicht irgendwelche Scheiße in meinen Rucksack stecken lasse – ob gut oder schlecht.

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9 Kommentare

    1. Das Bild hat bei mir auch gedauert. Und ich merke beim Schreiben, wie weit ich in manchen Dingen ich eigentlich schon bin, ohne dass es mir vorher bewusst war. Ich bin sonst kein Freund von Metaphern und Affirmationen, aber es scheint unterschwellig zu wirken, dass eine andere Lebenseinstellung eingezogen ist.

  1. Ich bin über Focus online auf deinen Blog aufmerksam geworden, dort hast du einen Artikel zum Thema Depression und Vaterschaft geschrieben. Dieses Thema und deine darstellungen des selbigen haben mich sehr berührt, hat es doch meine eigenen Ängste gut ausgedrückt. Ich habe keine Kinder, aber das ( vlt krankheitsbedingte ?) Grübeln über die Verantwortung und auch Sachen wie vererbbarkeit haben meinen kinderwunsch immer in weite Ferne rücken lassen. Im Moment bin ich leider wieder eher unten als oben, die Rucksackmetaphorik hat mir trotzdem gut gefallen. Ich denke nur manchmal dass Menschen mit „unserer“ Problematik zu selbstreferenziell sind, bzw wir uns in gewisser Weise anfangen durch die Krankheit zu definieren. „Normale“ Menschen definieren sich durch Status oder Konsum oder soziale Zugehörigkeit, bei Menschen wie mir habe ich oft das Gefühl wir spielen sozusagen auf dem ascheplatz neben dem richtigen Stadion, kleinere zuschauergruppe die sich identifizieren kann und andere Zielsetzungen. Und das macht mich irgendwie traurig. Naja ich hab jetzt nicht wirklich einen Punkt in diesem Kommentar, aber das wollte ich einfach mal loswerden.

  2. Sorry ich muss da noch was zu schreiben, wegen dem Fußballbild. Mit AschePlatz und Stadion meinte ich dass auf der einen Seite tiefgreifende emotionale Zustände und Verhältnisse diskutiert werden, während plakativ gesagt auf der anderen Seite darüber nachgedacht wird welches Bild aus dem letzten spanienurlaub auf Facebook die meisten likes bekommt oder ob die farbe des neuen Autos einen gewissen Charakter widerspiegelt. Dann frag ich mich manchmal was überhaupt krank ist.

  3. Hallo, na ihr habt Probleme …..aber mit Depression hat das nicht viel zu tun..eher mit über versorgten Millionärs söhnchen ….

        1. Ich ärger mich ja nicht mal, mich interessiert das wirklich. Vielleicht erfahre ich ja was über mein Elternhaus und mein Leben. Fragen muss ich ja schon mal. ?

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