Lass bloß niemals los!

Loslassen. Die Königsdisziplin auf dem Weg zu mir selbst. Die größte Aufgabe, um nicht immer wieder in fatale Gedankenkreisläufe zu fallen. Die größte Hürde für die Gefühle. Loslassen von Situationen. Loslassen von erlernten Strukturen. Loslassen von Menschen. Loslassen von falschen Vorstellungen und Erwartungen. Loslassen von Glaubenssätzen. Vor allem aber loslassen von Dingen, die nie waren, die nie sein werden und die sich niemals so erfüllen, wie ich es mir erhoffen. Ich freue mich immer, wenn mir jemand mitteilen möchte, wie einfach dieses „Loslassen“ doch ist. Nein! Ist es nicht! Und ja, das kotzt mich selbst an. „Lass doch einfach mal los und denk da nicht immer dran! Du lebst im Hier und Jetzt, nicht in der Vergangenheit.“ Blah! Am Arsch! (Entschuldigung.)

Warum ich vieles nicht loslassen will wollte? Loslassen ist ein Abschied. Ein Abschied braucht Zeit und Gefühl für mich selbst. Ein Abschied bringt auch Trauer mit sich. Trauer braucht einen Raum und auch wieder Zeit. Einfach mal so loslassen? Ist damit fast unmöglich. Und fast unmöglich ist das Tor zum: „Dann brauche ich es ja auch gar nicht erst zu versuchen. Das schaffe ich doch dann eh nicht. Hab ich ja schon oft genug probiert. Und auch darüber geredet.“ Hat 2013 also schon nicht geklappt. Wieder ne große Klappe und doch nicht eingehalten. Wenn es schon nicht funktioniert, dann halte ich eben meine Regeln ein. Das klappt immer.

1. Du bist immer das Kind! Immer.

Warum soll ich erwachsen werden? Warum soll mich jemand lieben? Warum soll ich mir das selbst geben können? Kann ich nicht! Ich brauche wen, der das macht. Das habe ich schon immer gebraucht. Ich bin damals sehr verletzt worden und ich bin es noch immer. Lass mich mit „Aussöhnung mit dem inneren Kind“ zufrieden! Das will ich nicht. Das bringt doch eh nichts. Außerdem bin ich erwachsen. Warum sollte das aus der Kindheit kommen? Ich werde alles dafür tun, damit meine Eltern mich lieben und irgendwann stolz auf mich sind. Ich bin auch eigentlich gar nicht verletzt! Ich will einfach nur geliebt werden, nicht mehr. Warum soll ich jetzt da irgendwas loslassen? Macht doch gar keinen Sinn!

2. Steigere dich in jede Situation! In jede!

Jede Kritik und Aussage, die mir nicht gefällt, ist ein Angriff gegen mich. Ich will geliebt werden und du stellst es damit infrage! Da du mich kritisierst, möchte ich auch nichts mehr mit dir zu tun haben. Du machst mich sauer. Es ist egal, was du zu mir gesagt hast, du machst mich mit deinem Verhalten sauer! Warum soll ich mich distanzieren? Was soll ich denn daran objektiv sehen? Du verletzt mich, also verletze ich dich auch. Ganz einfach. Und ich werde dir das ewig nachtragen. Ich vergesse niemals, was du mir damit antust. Es ist mir auch egal, ob und wie du dich entschuldigst, du stocherst ja in meinen Wunden rum, anstatt einfach für mich präsent zu sein. Ich brauche dich nämlich und ich klammere mich daran. Vielleicht entschuldige ich mich ja sogar, dass ich du mir weh getan hast, weil ich dich brauche. Ich vergesse es aber nicht! Ich vergesse niemals, dass du mir schadest.

3. Halt an allem fest!

Loslassen. Wie lächerlich. Ja, ich halte dann eben an Menschen fest, ich habe Angst allein zu sein. Vielleicht bin ich es ja gar nicht, aber das ist egal. Je mehr Kontakte ich habe, desto besser ist es wohl. Dann fällt es auch nicht auf, wenn jemand mal weg ist. Ich finde auch gut, was ich gelernt habe und welche Glaubenssätze ich habe. Ich habe da immerhin mein Leben mit verbracht und ich lebe ja immer noch. Warum soll ich mich davon verabschieden. Wisst ihr, wie schwer so ein Abschied ist? Habt ihr schon mal jemanden unter die Erde gebracht, der euch im Leben Halt gegeben hat? So ist das nämlich auch mit den Strukturen und Denkweisen. Änder das mal einfach so! Ha! Pustekuchen. Ich habe keinen Bock mehr auf Abschied, beschissene Heulerei und sowas. Vor allem ist das verdammt anstrengend. Möchte ich nicht. Ich möchte nichts anstrengendes mehr. Es ist einfacher für mich, daran festzuhalten – auch wenn es mir weh tut. Es tut ja alles irgendwie weh. Abschied, kein Abschied. Denken, umdenken. Also? Warum soll ich loslassen? Außerdem müsste ich lieb gewonnene Dinge weggeben und verabschieden. Wie bescheuert ist das denn?

4. Klammere dich an jede Hoffnung, an jeden Wunsch, an jede Erwartung.“

Ich kann nicht nichts erwarten. Wie soll das denn gehen? Sicher erwarte ich immer wieder irgendwas. Und ja, es enttäuscht mich, weil es sich nicht erfüllt. Das ist nun mal so. Auch wenn ich die Menschen nicht mehr mag, die das nicht erfüllen, sind sie noch da. Sie verletzen mich, na und. Sind doch aber sehr tolle Menschen. Eigentlich. Warum soll ich auch nicht hoffen? Oder wünschen? Eigentlich soll man das doch. Also ich soll das doch so machen. Ich kann nicht lieben, was ist. Das was ist, ist ja eben nicht so toll. Oder sogar beschissen. Ich erwarte einfach, dass Menschen anders mit mir umgehen. Dann wird das schon funktionieren.

ALLE REGELN SIND EGAL!

Ich bin auf Rügen. Ich habe den Mittagsschlaf des Sohnes genutzt und war über 2 Stunden allein am Strand. Ich bin ein Stück Hochwanderweg an der Steilküste gegangen und über 5 km barfuß im Wasser. Die Sonne hat meine Haut gewärmt. Das 15° kalte Wasser war irgendwann angenehm. Mir waren andere Menschen egal. Ich war ganz bei mir. Ich hatte keine Ängste, keine Sorgen und keine Gedanken daran, was ich noch erledigen muss, welche Termine noch zu vereinbaren sind, wer wie über mich denkt, was noch bezahlt werden muss. Es ist mir egal, ob ich gut oder schlecht aussehe mit dem, was ich anhabe. Ich habe losgelassen. Für den Moment.

Ich lasse mittlerweile viel öfter los, als ich das selbst mitbekomme. Ja, loslassen ist ein Abschied. Gerade wenn es um die Bindung aus meiner Kindheit geht. Es hat die Zeit von dem Brief bis heute gebraucht, um es endgültig zu verstehen und die Trauer zuzulassen – um überhaupt den Abschied zuzulassen. Es hat gedauert, bis ich lieben konnte, was wirklich ist. Das bin ich. Das bin ich mit dem, was ich Tag für Tag mache – wenn auch nicht immer fehlerfrei. Ich habe auch losgelassen, dass ich es jedem Recht machen muss. Ebenso muss es mir nicht jeder Recht machen. Ich muss nicht mit jedem einer Meinung sein. Loslassen von Gedanken und Gefühlen. Loslassen von vielen Ängsten und darauf achten, worum es wirklich geht. Ich weiß nicht, wann sich das eingestellt hat. Ich habe nicht den genauen Moment parat. Vielleicht ist es eine Mischung aus vielen Momenten, vielen Auszeiten, vielen vielen Übungen dazu. Vielleicht habe ich wirklich angefangen zu lieben, was ist. Mich und mein Leben. Mit Fehlern. Mit Launen. Mit Gegenwind. Mit Hürden und Aufgaben. Vor allem habe ich losgelassen davon, jemand zu sein, der ich nicht bin. Jemand, den andere aus mir machen wollten und mir das immer wieder zu verstehen gegeben haben, weil ich nicht so war, wie sie es sich vorgestellt haben.

Loslassen. Die ersten richtigen Übungen? Hatte ich in der Tagesklinik. Mit Achtsamkeit und progressiver Muskelentspannung. Natürlich habe ich damals nicht richtig verstanden, wofür das wirklich gut sein soll. Auch heute mache ich keine Muskeldinger mehr, aber Achtsamkeitsübungen. Auch der Spaziergang am Strand war eine davon. Ich habe bewusst wahrgenommen, wie die Sonne sich anfühlt, wie das Wasser ist, wie der Sand sich zwischen meine Zehen legt, wenn die Wellen wieder zurückgehen. Ich habe losgelassen von dem Schmerz der Kindheit, von dem Ausbleiben von Wertschätzung und Anerkennung. Ich habe losgelassen vom „muss und soll“, denn ich „darf und kann“. Ich habe losgelassen, ein perfekter Mensch mit perfekten Ergebnissen zu sein. Ich muss nicht toll und super sein, das dürfen andere gerne sagen, ich muss nur ich und echt sein. Dann bin ich angekommen. Manchmal gehe ich davon weg, aber ich finde dahin zurück.

Nach den Warum-Fragen weiß ich nun, dass Loslassen gar nicht so schwer ist. Sicher muss ich durch eine Phase der Enttäuschung und des Abschiedes, aber ich kann es. Und ich kann auch Erwartungen an mich loslassen. Ich kann eben nicht alles erfüllen, was von mir erwartet wird – auch nicht die Wünsche, denn die muss ich ja schon gar nicht erfüllen. Loslassen. Eine Übung über Jahre, die mal gut, mal weniger gut funktioniert. Und jetzt? Lasse ich den Blog wieder los und urlaube noch die restliche Zeit.

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5 Kommentare

  1. Das hast du mal wieder ganz wunderbar geschrieben Herr Bock und die gaaaanz richtigen Worte gefunden zum LOSLASSEN….
    Wenn es denn so einfach immer wäre, das Loslassen und das Worte finden dafür, die Vorstellungen loszulassen über das, was nie eintrifft und trotzdem Sehnsucht danach haben…
    Wir Menschen sind schon komische Wesen….

    Wünsche dir noch einen schönen RestUrlaub auf Rügen mit ganz schönen Momenten und vielen Begegnungen mit dir selbst.
    LG Barbara

    1. Liebe Barbara,
      einfach? Was ist schon einfach. Einfach ist das auch nicht für mich (gewesen). Aber reflektieren und analysieren hat ne Menge gebracht. Glaub ich. Loslassen funktioniert mittlerweile sehr gut, weil ich mich besser verstehe. Ich lasse noch lange nicht alles los, das zeigt auch jeder Blogbeitrag. Seit 5 Jahren. Und das zeigt, wie lang dieser Weg schon ist.

      1. Nein, einfach war es nicht für dich Markus, das weiß ich, seit ich dich in Lübeck in der Essigfabrik erlebt habe.

        Wahrscheinlich meinte ich es auch nicht so, dass es einfach für dich war. Nein ganz sicher meinte ich es nicht so.
        Es war für mich nur einfach zu lesen, was für dich harte Arbeit war all die Jahre….
        Erst an allem festhalten und sich ständig fragen…. Warum loslassen, wozu soll das gut sein und dann plötzlich geht es.

        Aber es war nicht plötzlich, dass weiß ich. Es las sich nur so einfach.
        Entschuldige…. Es ist meine Geschichte, die mich gerade traurig macht.
        Alles gut. Du hast damit nichts zu tun.
        Du hast meinen großen Respekt, wie du mit dir arbeitest.

        1. Nun ja, es war ja auch keine zwingende Aussage auf und über mich. Loslassen ist generell schwer. Wer das „einfach so“ machen kann, werfe den ersten Stein. Manches möchte man auch gar nicht loslassen können, weil es durch den Abschied eine Endgültigkeit bekommt. Vor allem auch die Frage, was danach kommt. Und ob es sinnvoll ist. Das ist das, was uns oft bremst. Mich auch. Die Endgültigkeit.

  2. Lieber Markus,

    Loslassen war auch für mich eine lange Zeit ein großes Thema. Ich konnte mit dem Begriff an sich schon nichts anfanLieber gen. Wegen der Endgültigkeit. Erst seit ich ein anderes Wort dafür nutze, geht es leichter. Statt „loslassen“ sage ich „freigeben“. Denn auch bei eher schlechten oder schmerzvollen Erfahrungen gab und gibt es für mich immer auch hilfreiche Aspekte. Eben etwas, auf das ich in Zukunft nicht verzichten will. Manche (negativen) Erinnerungen sind wertvoll. Beim Freigeben kann ich selbst entscheiden, was ich bei mir behalte und was nicht. Diese Herangehensweise hat mich ein ganzes Stück weitergebracht und lässt mich gelassener im Umgang mit dem Thema sein.

    Liebe Grüße und weitere achtsame Spaziergänge am Meer ?
    Barbara

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