Der geschlossene Kreis

Hier komme ich her. Hier wollte ich nicht wieder hin. Eine Straße. Drei Häuserreihen. Jeweils drei Eingänge mit sieben Wohnungen. Es hat sich über die Jahre verändert. Und doch ist es noch immer der Ort, der er war. Hier bin ich aufgewachsen. Hier habe ich gewohnt. Von hier bin ich zur Schule und allen anderen Aktivitäten gestartet. Hier habe ich irgendwann die wenigste Zeit verbracht. Hier wollte ich irgendwann nicht mehr sein. Und jetzt? Bin ich wieder hier. Wenn auch nur im Vorbeifahren, aber ich sehe täglich oft genug den Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Ich komme an meiner alten Schule vorbei. Und auch am zentralen Punkt der Stadt, den Menschenumschlagplatz, die Wendeschleife der Straßenbahn. Fast 20 Jahre später habe ich nun also nicht nur mit meinen „alten Geistern“ aufgeräumt und einen intensiven Vortrag in meiner Heimatstadt gemacht, nein, ich fahre jetzt jeden Tag hier wieder her, um zu arbeiten. Es ist unwirklich. Es ist irgendwie anders. Es ist distanzierter. Ich möchte nichts dazu fühlen, aber trotzdem kommen jeden Tag neue Bilder aus vergangenen Tagen dazu. Sie kommen unwillkürlich. Sie sind einfach da – ob gut oder schlecht. Jeden Tag macht mein Bus – wenn ich denn nicht mit dem Rad fahre – den Linksknick von der B6 in die Stadt. Jeden Tag sehe ich diese drei Häusserreihen. Jeden Tag fährt er an der Haltestelle „Ziegelei“ vorbei. Jeden Tag hebe ich den Kopf vom Blick aufs Smartphone und lasse die Bilder an mir vorbeiziehen. Immer dann, wenn mich eine Radtour durch die alte Heimat bringt, oder ich Menschen dort treffe. Ob ich sie irgendwann sehe, wenn sie mal aus dem Haus gehen? Treffe ich sie an der Wendeschleife? Sind sie überhaupt noch da? Beide?

Die Wiese vor dem Haus. Sie hat sich verändert. Früher stand dort noch eine alte Stange, die zum Teppichklopfen diente. Wir haben sie umfunktioniert. Es war unser Tor. Wir da haben fast jeden Tag Fußball gespielt. Das Schild, das mitten auf der Wiese stand uns das verboten hat, hat uns nicht interessiert. Wir waren Kinder. Wir waren einfallsreich und wollten toben. Den größten Anschiss habe ich bekommen. Das Tor stand so, dass der Ball öfter unter die Fenster der Erdgeschosswohnung bei unserem Eingang geflogen ist. Scheiß drauf, wir waren Kinder. Es war ne tolle Zeit. Wir. Kai, Olli, Melli, René, Mike, Jessi, Katja, Alex, Andi. Verzeiht mir, wenn ich wen vergessen habe. Es sind nicht alle Erinnerungen wieder da. Wir sind unterschiedlich alt, aber irgendwie immer irgendwo zusammen. 18 Jahre war das mein Zuhause. Der Sandkasten zwischen den Häusern. Das Kastanien sammeln, der Wald hinter der Lärmschutzwand, vor dem Abriss auch noch die alte Ziegelei. Die Wege zur Grundschule, Orientierungsstufe und Realschule. Mit irgendwem habe ich damals immer die Zeit geteilt. Die Wege haben sich getrennt, als wir unterschiedliche Schulen besucht haben. Andere Freundeskreise, andere Interessen, andere Wege. Und doch immer wieder dort zu Hause. Wir wussten so viel voneinander. Aber im Grunde wissen wir auch nichts. Nichts von dem, was zu Hause hinter geschlossen Türen passiert ist, wie es uns wirklich geht, was wir träumen und machen wollen. Wer wir sind. Wir waren Kinder, sorgenfrei und wild. Wir waren frei, wenn wir draußen waren. Und heute? Gibt es nur vereinzelt Kontakt. Wenn überhaupt. Zwei von euch sind heute schon nicht mehr da. Völlig überraschend und schockierend. Damals, als wir immer irgendwo klingeln konnten, damit jemand rauskommt. Oder drinnen spielen konnten – nur irgendwie nie bei mir. Ich wollte diesen Ort verlassen. Ich bin geflohen und habe alle Kontakte abgebrochen. Ich dachte, dass mich eine 100 km Grenze von allem frei machen würde. Ich dachte nicht, dass ich hier nochmal herkomme. Nicht so. Nicht täglich. Kurze Besuche um zu sehen, was aus der Stadt geworden ist, die sollten reichen.

Tja. Hat nicht so gut geklappt. Abzuhauen hat mir eine Menge Freiheit gebracht. Aber auch Verluste. All die tollen Freunde, die mich in meiner Kindheit begleitet haben. Gefangen war ich dennoch. Gefangen in meiner Jugend mit den falschen Strategien. Gefangen in der Suche nach dem, was mir so wahnsinnig gefehlt hat. All das, was ich mir selbst geben musste. All das, bei dem es als Erwachsener keine Abhängigkeit geben kann und darf. Verrückt, oder? Zurück zum Thema. Warum bin ich eigentlich geflüchtet? Vor mir? Vor dem, was nicht war? So richtig weiß ich es noch nicht. Zu gehen, war sicher richtig. Aber auch falsch. Falsch, weil ich alle Kontakte konsequent abgebrochen habe. Von jetzt auf gleich. Dabei konnten die nie was dafür. Im Gegenteil. Viele waren sogar ein großer Halt. Wirklich weg war ich dennoch nicht. Ich musste zu Besuchen. Ich war gezwungen, die 100 km auf mich zu nehmen. Manchmal sogar mehrmals im Monat. Andersrum ging es irgendwie nie. Weg zu sein hieß auch nie, dass ich meine Gefühle und Gedanken loswerde. Jetzt bin ich zurück. Irgendwie.

Alles ist anders. Plötzlich.

Während ich seit 3 Tagen an diesem Blogartikel sitze, ein paar Sachen und Erinnerungen aufschreibe, ist alles anders geworden. Mein Vater ist verstorben. Nach langer und intensiver Zeit mit der Krebserkrankung. Die Erinnerungen an die Zeit in der Stadt werden damit präsenter und intensiver. Aber keinesfalls schlecht. Im Gegenteil. Ich hatte Zeit genug, um bei mir aufzuräumen. Ich hatte Zeit für mich, um all die Wut und den Groll aufzuheben und es für mich zu sortieren.

Natürlich habe ich es nicht aus erster Hand erfahren, sondern durch Zufall aus der Zeitung. Auch das ist kein Wunder. Nach dem Kontaktabbruch und dem Vorgehen beim Tod meiner Oma, habe ich nichts erwartet. Ich hatte nur den Wunsch, es irgendwie zu erfahren. Jetzt ist es passiert. Es ist Gewissheit. Ich hatte Zeit, mich auch mit diesem Gedanken anzufreunden. Ich hatte Zeit, zurückzuschauen.

Ich bin dankbar für die Zeit, die wir doch zusammen hatten und die Dinge, die mich heute durch dich noch begleiten. Es ist schade, dass wir nicht nochmal die Zeit für ein Gespräch hatten. Ich glaube, es gab einige Sachen, die nicht ganz geklärt sind. Meine Wut auf all das, was uns passiert ist, ist nicht mehr da. Ich blicke lächelnd zurück. Lächelnd auf das Gute, was es in all der schweren Zeit gab. Die Volksläufe. Das Volksradfahren. Das Fußball spielen. Das Wandern im Urlaub. Die Momente, die wir zu zweit mit dummen Sprüchen und Lachen verbracht haben. Deine Eisenbahn im Keller. Deine Briefmarken und die Ausflüge am Samstag zum Flohmarkt wegen dieser Briefmarken. Die Nächte, die ich mit zur „Tour“ durfte und irgendwann einfach eingeschlafen bin. Auch die nervigen Besuche bei deiner Mutter vorher, damit du sie siehst und wir die Lottozahlen wissen. Die Sonntagmorgende im Garten mit Frühschoppen und dem Radweg an der Innerste nach Hause. Du hattest deine Macken und Eigenheiten. Vieles war in einen bestimmten Ablauf gepackt. Den Duft deiner Roth Händle werde ich sicher nicht vergessen (auch nicht den Geschmack. Und ich schwöre, ich werde dieses Kraut nie wieder rauchen!).

Eines bleibt trotzdem für immer verborgen. Wer warst du wirklich? Was hat dich ausgemacht? Warum konntest du nie wirklich Nähe zulassen? Was ist bei dir passiert, dass wir uns nie richtig kennengelernt haben? Wir hatten diese eine Stunde zusammen, in der es keine Fragen gab. Keine Suche. Keine Vorwürfe. Nur den Moment. Damals, als du im Krankenhaus warst. Seitdem hat sich vieles wie ein Puzzle zusammengefügt.

Es ist Zeit, dich gehen zu lassen. Nicht zu warten oder daran zu denken, dass wir nochmal zusammenfinden. Gute Reise, Papa.

Update 07/2021:
Wie gerne würde ich dich jetzt kurz anrufen. Du wärst im Garten. Dein Handy würde klingeln, es würde dauern, bis du rangehst oder ich müsste es sogar ein zweites Mal probieren. Du meldest dich mit Namen – wie auch sonst? – und ich würde dir gratulieren. Vielleicht würden wir ein wenig sprechen, wie es dir geht. Wie es mir geht. Und vielleicht auch, was wir beide so machen.

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3 Kommentare

  1. Danke für Deinen Mut, dieses Blog und für diesen Beitrag. Der vorletzte Satz hat mich mitgerissen…. so wahr. Und so wichtig (meine Mutter lebt noch, aber der Satz bringt’s auf den Punkt.)

  2. Moin!
    Du hast eine tolle Art zu schreiben. Ich fühle mich mitgenommen von dir.Sich seinen Gefühlen und Ängsten zu stellen (auch „nur“ im Vorbeifahren) ist mutig und stark und richtig.
    Ich begebe mich erst auf diesen Weg meine Dunkelheit zu durchdringen, aber dein Blog macht mir Mut.
    Ich hoffe ich kann dir eines Tages hier oben kurz vor Dänemark einen Augenblick lang live zuhören.
    Ich würde mich freuen.
    Stay strong!
    Danke

    1. Moin Sönke,
      ich habe deinen Kommentar jetzt erst gesehen, irgendwie hat er den Weg in den Spam gefunden. :/ Ich wünsche dir diesen Mut. Auch wenn er dich zwischendurch verlassen sollte, behalte ihn im Auge, damit er den Weg zu dir zurückfinden kann. (Wo ist den kurz vor Dänemark??!?!) :D

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