Die ewige Stille im Meer

Am Meer ist alles anders. Ich liebe das Meer. Ich liebe die Stille, die die tosende See mir schenkt. Wind und Wellen – je lauter und intensiver, desto ruhiger bin ich. Je stiller das Meer ist, desto lauter und unruhiger bleibt es in mir. Das Meer. So groß und faszinierend. So unberechen- und wandelbar. Welch Faszination eine Ansammlung von Wasser und Wind auslösen kann. Verrückt, oder? Wie viele Menschen es immer wieder ans Meer zieht, weil hier vermeintlich alles anders ist. Stundenlang auf Wellenbewegungen starren, langsame Spaziergänge durch den Sand, Strandläufe, Treibholz und Hühnergötter sammeln und was weiß ich nicht noch alles, was wir Meersüchtigen da immer wieder treiben müssen, um die verletzte und geschundene Seele mit etwas Schmerzsalbe einzureiben. Das Meer heilt nicht. Das Meer hört zu, ja. Es hat keine Wahl. Wir erzählen unsere Gedanken ohne Unterbrechung, ohne dabei auch nur ein Wort auszusprechen. Wir sortieren, wüten, weinen, lassen los und … das Meer ist einfach da. Sanft oder wild. Laut oder leiser. Es ist da. Wie viele Gedanken das Meer wohl schon geschluckt hat, ohne sich dabei auch nur ein einziges Mal zu beklagen? Es hat ja auch keine Wahl. Das Meer – der Freund, der niemals irgendwas Abwertendes sagen würde, wenn deine Gedanken fernab der Norm sind. Ein Freund, den wir auch so in unserem Leben brauchen.

Was wohl wäre, wenn wir in der stille des Wassers verschwinden könnten? Als Kind bin ich in der Badewanne gerne getaucht. Nase zuhalten, untertauchen und üben, solange wie möglich die Luft anzuhalten. Hast du das auch gemacht? Am Kiesteich oder im Freibad habe ich mich oft auf den Rücken gelegt, die Ohren unter der Wasserkante, Beine und Arme ausgestreckt und habe mich treiben lassen. Unter Wasser ist es still. Jedes Geschrei verstummt. Die Welt ist leise – unter Wasser. Ich habe es geliebt, beim Schwimmen zu tauchen, lautlos durch das Wasser zu gleiten. Ich habe es geliebt? Entschuldigung, das mache ich noch heute. Ich liebe es immer noch. Wie es wohl ist, in einer kleinen Tauchglocke alleine in der Stille zu sein? Ein paar Scheinwerfer leuchten in Fahrtrichtung, ein paar Fische kreuzen den Weg und sonst nichts. Einfach nichts. Wie es wohl wäre, mich in der Dunkelheit der Nacht ins Wasser zu legen, auf dem Rücken liegend die Sterne beobachten, die Ohren unter Wasser und mich treiben zu lassen? Wäre ich frei? Wäre ich nicht mehr gefangen in den Mauern meiner Gedanken und Gefängnisse, die ich mir manchmal noch selbst auferlege? Ist das jetzt wieder der Wunsch, mich aufzulösen und nicht mehr zu sein? Was bin ich denn nun eigentlich schon? Grundsätzlich als erste Antwort: überflüssig, ersatzbar, nicht besonders und … wohl auch vieles andere, was mit negativen Gedanken zusammenhängt. Glaube ich. Rede ich mir ein. Beweise ich mir – jeden Tag aufs Neue, wenn ich das will.

Und dann stehe ich hier nachts oben an der Steilküste, höre dem Meer zu und frage mich, warum mich diese Gedanken schon wieder so beschäftigen. Nicht alles läuft hier wie geplant. Der Ort ist anders, aber trotzdem schön. Es ist mehr Abenteuer als Erholung. Die Tage starrten später, die Abläufe sind länger und es ist nun mal Herbst. Geplante Touren mit dem Rad habe ich nicht gemacht. Wenn ich schon auf Rügen bin, will ich auch nen 100er um den Bodden fahren. Tja nun, 30 km an einem Tag, 20 km am anderen Tag, 22 km heute mit der Familie und 18 km nochmal nachgeschoben, sind zusammen noch nicht mal 100. Einfach ist es nicht, von so einem Plan abzuweichen. Die Tour mit der Familie heute war dennoch schön. Lang, anstrengend und schön. Ich bin stolz auf den 5 jährigen, dass er solche Strecken schafft, ohne dass ihn jemand zwingt. Immerhin, ich war in Bug, am Kap Arkona und in Wiek mit dem Rad.

Am Ende gibt es auch eine Antwort auf die Frage, warum mich diese Gedanken immer mal wieder begleiten, aber nicht (mehr) in meiner Stabilität erschüttern. Ich lebe nun mal mit der Dysthymie. Dieser negativen Grundstimmung, die sich mal stärker oder schwächer bemerkbar macht. Das ist das Gute daran. Das ist aber auch das Schlechte daran. Es ist aber vor allem nur ein Teil von mir, der mich nicht mehr bestimmt. Ich bestimme ihn. Ich kann sehr gut steuern, wie viel Besitz es von mir ergreift, ob und wann ich gegensteuern will, wie ich handeln will und wie lange es dauern wird. Momentan geht es. Das klingt sehr einfach, oder? Ja, ich weiß. Ist es aber nicht. Ich merke, dass ich dabei sehr reizbar bin. Reizbar, weil ich in den Phasen eine Zeit für mich zum Sortieren brauche, aber genau das gibt der Familienalltag nicht immer her. Es ist zermürbend, noch immer daran und damit zu arbeiten, weil ich davon wirklich so unendlich die Schnauze voll habe. Es ist doch auch echt mal gut.

Geben wir dem Ganzen doch ein Gesicht. Dysthymie oder Depressionen sind nicht immer nur dunkel, grau, trist, traurig, ernst und ohne Lachen. Psychische Erkrankungen haben so viele Facetten, dass dazwischen auch Leben möglich ist. Morgens aufstehen, den Arbeitstag starten und durchstehen, um die Familie kümmern, mit Freunden zum Sport treffen, soziale Kontakte halten, Haushalt mitmachen, alles ist möglich. Vor allem Leben.

Auszeiten wie hier auf Rügen sind wichtig. Für uns. Natürlich sehe ich die Kritik, die das Reisen mit sich bringt. Aber: Die Strände sind leer. Der Campingplatz ist leer. Wir können hier den Menschen besser aus dem Weg gehen, als wir es zu Hause könnten. Wir haben vorher geplant, was und ob wir es machen. Wir verfolgen die Informationen und Entwicklungen. Wir meiden Touristenorte und Hotspots. Wir wägen gut ab, was sein muss und was nicht. Und wenn die Stabilität der Psyche von beiden zu Hause ins Wanken gerät, dann müssen wir handeln. Mit Vorsicht, aber handeln. Dann müssen wir Auszeiten schaffen, Abenteuer unternehmen, Ruhe finden, füreinander da sein, und erden und gestärkt wieder in den Alltag zurückkehren. Wir sehen die Regeln, wir handeln im Rahmen der Regeln und vor allem mit Vernunft. Und wenn ich könnte, würde ich noch viel länger hier auf der Insel bleiben, um all dem etwas mehr entgehen zu können.

In diesem Sinne: Bleibt gesund!

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6 Kommentare

  1. Ach ja, würde ich auch gern mal wieder machen, die Ostsee besuchen.

    Ich habe – vor Jahren – mal ausprobiert, was in Bad Sulza angeboten wird: Liquid Sound. Baden in Licht und Musik. Genial entspannend in der dichten Sole. Ob es was für Dich wäre? (Liquid Sound)

    1. Es ist wirklich unglaublich.
      Der Text passt von vorn bis hinten … und wenn es nach mir ginge, wäre ich immer dort.

      Wie ich die Möven beneide, die da so frei fliegen …

      Schlimm ist für mich, dass genau dieses Gefühl keiner versteht. Dieses Gefühl von frei sein … Diese Ruhe, diese besondere salzige Luft, dieses Pletschern des Wassers … aber ich liebe auch diesen Ostseesturm. Hauptsache ich kann da sein und meine Gedanken mir aus dem Kopf blasen lassen,… ich muss mich dazu extrem anstrengen, um bis an den Strand zu kommen … es ist eine Schieflage notwendig … wie in meinem Kopf.
      Und danach fühle ich mich besser, freier aber ich brauche es immer wieder.
      Eine Sucht, die nie aufhört.

  2. Ach so schön wie du das beschreibt. Wenn ich am Meer stehe, die Salzbrise in meiner Nase und das Tosen des Windes in den Ohren, stehen meine Gedanken still. Für mich ist das der Moment in dem ich mich frei und leicht fühle. Frei von allen Sorgen und erlöst von meiner Last. Ich wünschte ich könnte mich immer so fühlen.
    Schöne Bilder und wundervoll geschrieben
    Herzliche Grüsse

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