Das Loslassen zulassen, oder?

Seitdem ich mich so intensiv mit mir beschäftige, taucht immer wieder das Thema Loslassen auf. Irgendwann habe ich mich dem etwas mehr genähert, um mal zu gucken, was das wirklich ist. Was ich loslassen muss. Was ich loslassen soll. Und auch, warum ich an etwas festhalte, was – theoretisch – gar keinen Sinn mehr macht. Vor allem ist klar: An negativen Erfahrungen festzuhalten, zerstört langfristig meinen inneren Frieden. Ja, das klingt jetzt schon etwas pathetisch, ich weiß. „Du musst nur loslassen lernen, dann wird alles besser“, kannste an jeder Ecke lesen. Wie schwer das aber ist, das sagt dir niemand. Es sagt dir auch niemand, wie lange sowas dauern kann. Warum? Weil wir für das Leben einfach keine passende Strategie eingeimpft bekommen, wie wir damit umgehen können. Deshalb ist es vermeintlich einfacher, an Menschen, Situationen oder Erlebnissen festzuhalten, die uns nicht guttun.

Nun durfte ich mich ja nun schon öfter mit dem Loslassen auseinandersetzen. Sei es der Tod meiner Großeltern, die Verbindung zu meinen Eltern, der Wunsch nach Anerkennung aus dieser Richtung oder einem Gespräch, meine eigenen Vorstellungen vom Leben und nicht zuletzt auch der Schritt der Trennung als Paar. Loslassen von Vorstellungen, Wünschen, Erwartungen, Hoffnungen und – das ist wichtig!! – dem Frust, der in der Zeit entstanden ist. Das Wichtigste dabei: Es braucht Zeit. Es braucht auch durchaus viele Gespräche, wenn wir als Eltern weiter so ein harmonisch gutes Team sein wollen. Es braucht die Möglichkeit, all die Emotionen zuzulassen, die dabei aufkommen. Selbst wenn etwas klar ausgesprochen ist, weiß der Kopf das. Und doch können einen die Emotionen dazwischengrätschen und die Klarheit verhageln.

Loslassen ist Veränderung. Veränderungen bringen oft Angst mit sich. Ich verlasse den vermeintlich sicheren Hafen, um die Welt anders und neu zu entdecken. Die Gefahr: Ich weiß nicht, was auf mich zukommt. Angst ist per se ja auch gar nichts schlechtes, wenn ich sie zulasse und mal schaue, ob die überhaupt begründet ist. Es braucht Menschen im Umfeld, mit denen ich über diese Sachen sprechen kann. Ich muss mir selbst klarmachen, dass ich die Zukunft selbst gestalten kann. Veränderung entsteht auch durch meine Entscheidungen. Je aktiver ich sie treffe, desto besser kann es werden. Ich darf lernen, klar zu äußern, was ich will und was ich brauche. Und letztlich kann ich für mich auch ein Ritual einführen, was kein anderer mitbekommt und mir das Loslassen erleichtert.

Loslassen begegnet uns auf so vielen Ebenen im Alltag. Der Job, der zu Ende geht – oder gegangen wird. Das Kind, das immer mehr die Freiheit sucht. Kleidungsstücke im Schrank, Stehrümmchen im Wohnzimmer, alte Bilder, Menschen, Familie, Situationen. Natürlich ist es legitim, dass ich damit hadere, doch bringt mich dieser Frust wirklich weiter? Muss ich mich darin ergeben und immer nur zurückgucken? Natürlich sind solche Situationen für mich wie gemacht, um mich den Gedanken hinzugeben und alles zu beleuchten. Aus jedem Blickwinkel. Nur mit einem mittlerweile großen Unterschied: Ich bleibe nicht mehr in ihnen gefangen und sehe es Teil des Loslassens, meine Rolle in der Situation nochmal klarer anzugucken. Und auch das braucht Zeit. Da können dann doch durchaus auch mal Tage wieder „nicht so einfach“ sein. Es kann sein, dass ich mich zurückziehe. Es kann sein, dass ich stiller werde.

Und auch das Vermissen ist etwas, was damit tief zusammenhängt. Es gibt Momente, das vermisse ich die alte Lethargie einer schweren depressiven Episode, weil so vieles auf den ersten Blick einfach war. Es war einfacher, keiner Tagesstruktur zu folgen. Es war einfacher, nicht aufstehen zu können. Aber ist das die Wahrheit? Der Blick darauf ist entscheidend. So ist es auch bei Trennungen. Ich muss Klarheit schaffen. Vermisse ich das, was war? Was war es denn? Vermisse ich das, was es hätte sein können? Vermisse ich einfach nur die Nähe zu jemandem? Was vermisse ich eigentlich wirklich? Die Antworten bringen diese nötige Klarheit. Nicht sofort, aber sie kommt. So läuft es in vielen anderen Situationen für mich auch. Ich beleuchte alle Punkte, um mich dort zu sehen.

Ist das Zulassen wichtiger, als das Loslassen?

Auch wenn ich das Thema „Loslassen“ hier nur anreißen kann, weil ich sonst jeglichen Rahmen eines lesbaren Beitrags sprengen würde (googelt es einfach mal, ihr findet genug dazu), ist der Gedanke etwas Neues zuzulassen, doch mittlerweile etwas schöner. Zulassen ist der Blick nach vorne. Zulassen ist, dass ich bereit für neue Wege bin. Zulassen kann auch heißen, dass ich nicht abschätzen kann, wie der Weg sein wird, aber ich fange mal an ihn zu gehen. Zulassen heißt auch, mich auf neue berufliche Aufgaben zu konzentrieren, neues zu lernen, einen Kurs zu machen, oder in einem völlig fremden Bereich anzufangen. Zulassen heißt, sich auf neue Menschen einzulassen und nicht die Türen frustriert zuzuschlagen, weil ich noch in der Erfahrung festhänge, die mich im Alltag belastet. Zulassen ist der Schritt, altes loszulassen, zu vergeben und – hoffentlich – wohlwollend zurückzuschauen.

Nicht immer ist positive Sprache eine Hilfe für mich. Es ändert nichts, nur weil ich etwas positiver ausdrücke, als es ist. Ich kann auch nicht immer in allem etwas Gutes finden. Muss ich auch nicht. Manchmal muss ich durch ein Tal voller dunkler und frustrierender Gedanken und Emotionen, auch das ist zulassen. Dennoch bleibt das Zulassen für mich positiver konnotiert. Ich lasse zu, nicht alles perfekt zu machen, aber so gut ich es in dem Moment kann. Ich lasse zu, dass Menschen in mein Leben kommen und andere dafür gehen – weil die Themen und Interessen einfach nicht mehr passen. Ich lasse zu, jemanden kennenzulernen, ohne zu wissen, wo die Reise hingeht. Es könnte ja wirklich richtig gut werden. Auch, wenn es nur für eine begrenzte Zeit in meinem Leben so sein soll.

Ich lasse zu, dass ich an manchen Tagen leistungsfähiger bin, als an anderen. An denen geht dann oft nichts. Ich kann sehr gut zulassen, dass Menschen andere Meinungen haben als ich. Das ist nämlich durchaus wertvoll – solange es vernünftig geäußert ist. In dem Zug ist mir aufgefallen, dass die Aussage: „Kann ich dir dazu einen Gedanken von mir anbieten“, so viel Kraft hat und Respekt zeigt, wie es viele andere Gespräche nicht können. Ich bin genervt von ungewollten Meinungen. Niemand muss alles kommentieren, nur weil ich etwas erzähle. Manchmal müssen Sachen auch einfach ausgesprochen werden, damit ich sie mal für mich laut höre. Dann lasse ich nicht zu, dass mir jemand seine Pseudotipps ohne Erfahrung um die Ohren wemmst.

Wenn ich also bereit bin, mit dem Loslassen anzufangen, kann ich auch wieder zulassen. Schöner wird es, wenn ich losgelassen habe und dann voller Liebe auf etwas zurückblicken kann, was mich im Leben begleitet hat, ohne es zurückhaben zu wollen. Frust und Ärger haben dann keinen Platz mehr.

Die Zeit heilt alle Wunden?

Tja. Ist das wirklich so? Sind Verletzungen wieder genesen, wenn ich ihnen nur genug Zeit gebe? Wächst irgendwann über alles Gras und dann ist es wieder gut? Ich denke nicht. Es ist nicht Zeit und auch nicht das Gras. Manche Verletzungen bleiben immer bestehen, auch wenn ich mich so sehr bemühe. Sie sind da. Die Wundheilung war nicht gut, die Narben sind zu dick und sie sind sichtbar. Auch Gras wächst unterschiedlich. Habt ihr schon mal den Unterschied gesehen, zwischen vernünftig angelegtem Rasen und einer Stelle, an der ein Baum gefällt wurde? Der Boden ist ziemlich lange zu sauer, um ein vernünftig sattes Grün zuzulassen. Es ist anderes Gras. Es hat eine andere Farbe. Und so ist das halt doch auch immer noch präsent.

Zeit in Verbindung mit meinem Umgang mit der Verletzung, das kann Linderung bringen – nicht immer Heilung (ich finde diesen Begriff wirklich nach wie vor echt schwierig). Ich muss mich diesen Themen widmen, mich mit ihnen auseinandersetzen und dann kommt – Trommelwirbel – auch wieder das Loslassen ins Spiel. Und ja, das geht nicht immer allein. Dafür gibt es Therapeuten, Kliniken, Tagesstätten, Selbsthilfegruppen, Seelsorge, Onlineangebote, Kurse und noch viel mehr. Ich muss das nicht mit mir allein ausmachen, ich darf mir da Hilfe suchen.

Ich darf mich auch mit anderen austauschen, ich darf mich von anderen und ihrem Weg und Umgang inspirieren lassen. Ich darf mich auch zurückziehen. Wichtig ist: Veränderung entsteht, wenn ich mich damit beschäftige, wenn ich loslasse und zulasse. Alles bedingt sich. Jeder Teil für sich ist nie so einfach wie es klingt. Je mehr ich das mache, desto besser kann die allseits erwähnte Resilienz entstehen.

Ich wünsche euch allen den Mut, über diese Sachen sprechen zu können. Und ich wünsche euch jemanden, der bei diesen Sachen aufrichtig zuhört. Der (oder die) vielleicht auch gar keine passende Antwort hat, aber ein Stück begleitet. Ich wünsche euch jemanden, der seine Meinung nicht einfach rausrotzt. Und ich wünsche euch jemanden, der interessiert nachfragt, ohne aufdringlich zu sein. Vor allem wünsche ich euch jemanden, der die Stille aushalten kann, wenn es mal bei euch selbst viel zu laut ist. Mein größter Wunsch: Wir lesen uns jetzt wieder öfter, oder?

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3 Kommentare

    1. Mal wieder ein großes Dankeschön für deinen wunderbaren Text.
      Es ist ein Geschenk, wie Du mit Worten umgehen kannst.
      Ich muss auch bald was Loslassen. Meine Langzeittherapie endet. Es fühlt sich an wie (los) laufen lernen.
      Liebe Grüße, Tanja

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