Timo. Ein supersympathischer Mensch, den ich bei Lesungen getroffen habe, der mir eine Kerze im Weckglas mitgebracht hat und mir zugehört hat. Bei solchen „Veranstaltungen“ ist nie der Raum und die Zeit, um über die ganze Geschichte zu sprechen. Timo hat sich zeit genommen, alles aufgeschrieben und ich glaube, auch seine Geschichte braucht diesen Raum, um gelesen zu werden. Danke, dass du das teilst.
Heute ist der 2. Mai 2021. Ich möchte euch gerne eine Geschichte erzählen. Heute feiere ich so ein bisschen eine Art 2. Geburtstag. Heute ist der 2. Mai 2021, heute vor nun 13 Jahren begann ein Schritt, welcher mein Leben komplett veränderte. Wir schreiben den 2. Mai 2008, ein Freitag. Ein Tag wie jeder andere, im Dienstplan steht eine Spätschicht. Ich, damals 21 Jahre jung, gelernter Streckenlokführer, leider unter falschen Versprechen statt Streckenlokführer vorerst „nur“ Rangierarbeiter. Bitte nicht falsch verstehen, die Jungs haben meinen allergrößten Respekt. Das ist absolute Schwerstarbeit.
Ich fing also ein paar Wochen zuvor an einem der größten Rangierbahnhöfe Deutschlands an.
Schon länger geht es mir nicht wirklich gut. Vor ein paar Monaten bekam ich nach sehr langer Odyssee die Diagnose ADHS im Erwachsenenalter. Bekam endlich Medikamente und den Beginn einer Therapie. Die Diagnose war auch schon ein großer Wendepunkt in meinem Leben. Endlich hatte ich eine Erklärung für mein „Ich“, warum ich so bin, wie ich bin, obwohl ich doch so gerne „anders“ bzw. „normal“ wäre. Vielleicht, oder sogar ziemlich sicher, war dieser Zeitpunkt schon der Beginn meines (neuen) Lebens. Doch bis dahin sollte noch einmal viel passieren.
Trotz der medikamentösen Behandlung des ADHS, die auch schon echt gut half, ging es mir immer schlechter. Umzug, neue Therapeutensuche, etc. Die unendliche Enttäuschung nicht die zugesagte und versprochene Arbeitsstelle als Streckenlokführer zu bekommen und das erst mehr oder weniger zufällig eine Woche vor Antritt selbiger zu erfahren trug nicht gerade zur Besserung bei. Im Gegenteil, ich kam mir sowas von richtig verarscht vor. Nur, was sollte ich machen? In der bisherigen Stadt war bereits seit Monaten Stelle und Wohnung gekündigt, am neuen Wohnort 2 std vorher Wohnung zugesagt. In einer Woche sollte der Umzug sein. Alternativen hatte ich erstmal keine. Ich stand mit dem Rücken zur Wand. Dazu kam massives Mobbing seitens der neuen Vorgesetzten (wohlgemerkt nicht mein direkter Gruppenleiter, der war der einzige ehrliche zu mir). Der Betriebsrat übrigens, der ja auch beim Vorstellungsgespräch dabei war, explodierte ob der Nachricht erst am Telefon, um dann am nächsten Tag mitzuteilen, das sei eine rechtmäßige kurzfristige Änderung, hätte er nichts davon gewusst, da könne er nichts machen. Alles in allem eine ziemlich besch… Situation. Klar, ich hätte jeder Zeit wo anders anfangen können. Doch dafür fehlte mir bereits die Kraft. Außerdem, wer garantiert mir denn, dass es woanders nicht genau so laufen würde?
Hinzu kam jetzt noch der volle Wechseldienst. War ja während der Ausbildung nur gemäßigt erlaubt. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das so viel ausmacht. Schließlich war ich durch die Feuerwehr gewohnt, gelegentlich zu den unmöglichsten Zeiten raus zu müssen. Doch mir bekam der Wechseldienst so überhaupt nicht. Dabei hatte ich es im Rangierdienst mit festen Schichtzeiten noch vergleichsweise gut. Als Lokführer oder im Zugbegleitdienst wären Dienstbeginn und Ende zu jeder Minute rund um die Uhr möglich, und das in den Grenzen der Ruhezeiten natürlich, auch jeden Tag zu einer anderen Zeit. Zuletzt ging es bei mir nur work, sleep, repeat. Teilweise kam ich zur Wohnungstür rein und musste mich nur 5 Stunden später wieder auf den Weg zur nächsten Schicht machen. Einkaufen, essen oder gar Freizeit/Erholung ist da noch nicht passiert. Hauptsache schlafen, damit ich wieder halbwegs fit bin.
Meine geliebte Feuerwehr habe ich mit dem Umzug erstmal aufgegeben. Wenn ich mit Glück alle halbe Jahr mal zu einer Übung kann, dann hat das einfach absolut keinen Sinn. Zum Glück hat mich eine damalige Netzbekanntschaft in die örtliche SEG San einer HiOrg gleich dingfest akquiriert. Da ging es etwas flexibler mit den Zeiten. Gegessen habe ich am Ende übrigens verdammt wenig für meinen Bedarf. Und oft nur, wenn ich das Glück hatte, das beim Bahnhofsbäcker gerade keine Schlange war und ich noch Zeit hatte. Klar gab es da auch eine Mitarbeiterkantine. Leider befand sich diese genau am anderen Ende des Rangierbahnhofes, ca 30 bis 40 Minuten Fußmarsch, einfache Strecke, entfernt. Also nicht machbar. Letztendlich wog ich bei Aufnahme <64kg bei 193cm Körpergröße.
Einige Tage oder Wochen, ich weis es nicht mehr, zuvor, hielt ich Abends bei „meiner“ damaligen HiOrg einen Unterricht zum Thema „Gefahren aus dem Bahnbetrieb“, Verhalten in Gleisnähe etc. Ein sehr wichtiges Thema, weil wir im Ehrenamt die Zweitbesetzung des örtlichen Tunnelrettungszuges gewesen wären. Aber vor allem auch für die Hauptamtlichen Kollegen, da diese natürlich auch oft genug im Rangierbahnhof oder generell mit Bahn/Gleisanlagen im Einsatzgeschehen zu tun haben.
Als ich am nächsten Morgen zur Frühschicht antrat, traf mich fast der Schlag. Es wurde eine Sammelbüchse herumgereicht. Sie war für die Familie eines Kollegen bestimmt, welcher in der Nacht unter einen rollenden Wagen geriet und tödlich verunglückte. Das Fahrzeug trennte ihm den Kopf ab. Im Laufe der Schicht wollte mein Kollege die Unfallstelle ansehen. Man sah bis auf einen winzigen Blutfleck nichts mehr. Doch ich hatte sofort die Szene vor meinem inneren Auge.
Dies war der Punkt, wo auch ich mir endlich eingestehen musste, ich brauche Hilfe. DRINGEND!
Auf Vermittlung meiner damaligen Bekannten/guten Freundin wendete ich mich an unseren Bereitschaftsleiter u Doc der SEG und schüttete ihm mein Herz aus. Dieser riet und empfahl mir dringend seinen eigenen Hausarzt (ein Hausarzt der alten Schule *grmpf*) aufzusuchen und machte mir evtl sogar gleich einen Termin. Das weis ich nicht mehr. Mittlerweile bin ich aber zumindest davon überzeugt, dass er diesen im Vorfeld schon über mich gebrieft hat. Das ging gefühlt deutlich zu schnell mit der Einweisung ;-) Damals war ich sauer, heute bin ich sehr dankbar dafür.
Nun, wir schreiben den 2. Mai 2008. Der Tag meines Termins am Morgen. Der Tag, der mein restliches Leben radikal verändern würde. Zur Erinnerung, rein rational mit meinem Feuerwehr/Helfergehirn betrachtet, war es mir völlig klar, das ich schon seit sehr langer Zeit dringendst professionelle Hilfe in Form von Therapie etc bis stationäre Psychiatrische Klinik gebraucht hätte. Jeden anderen Menschen hätte ich schon Monate vorher dazu ermutigt und begleitet. Aber sich das selbst einzugestehen, das viel verdammt schwer. Ich bin doch Feuerwehrmann, ich bin doch der Fels in der Brandung, der den man ruft, wenn Hilfe benötigt wird….
Ich bin also in der festen Überzeugung dahin, das ich mich erkundige nach Kliniken, welche sich auf ADHS bei Erwachsenen spezialisiert haben, und ich nach 2 bis 3 Wochen Klinik wieder hergestellt und voll einsatzfähig bin.
Tja, der Doc nahm sich die Zeit und hörte mir zu. Wirklich weit kam ich allerdings nicht, da hatte er schon den Telefonhörer in der Hand und fragte ob ich es selbst rüber zur örtlichen Psych schaffe, oder er einen Transport rufen soll. Bääääämmmm!!!!! Dabei hatte ich die gelegentlichen Suizidgedanken gar nicht erwähnt.
Mooooooment, ich wollte mich doch nur mal erkundigen?!??? Und in den örtlichen Pflichtversorger wollte ich aus Gründen schon gar nicht. Mir wurde aus Rettungsdienstkreisen etc dringend davon abgeraten. Fun Fakt: Die waren so überbelegt, ich hätte ein Bett auf dem Gang gehabt.
Außerdem habe ich doch heute Spät u morgen Tagschicht. Ich kann doch die Kollegen nicht hängen lassen. Zumal ich erst eine Woche wieder gearbeitet habe, nach dem ich eine Woche wegen Wirbel verrenkt krank war. Aber alles Betteln und Flehen half nichts, ich wurde sofort krank geschrieben und mit den nötigen Überweisungen versehen. Letztendlich konnte ich froh sein, ohne direkten Transport in die Klinik gehen zu dürfen.
Als ich beim Doc raus bin, war ich wie in Trance. Erstmal den Diensteinteiler anrufen, dass Ersatz für mich gefunden wird. Im Bahnbetrieb ist halt einer weniger nicht möglich, da muss definitiv Ersatz bei. Nicht erreicht, also Dispo benachrichtigen. Diese nimmt es hin. Diensteinteiler ruft zurück und faltet mich verbal auf das heftigste und unmöglichste zusammen. Kollegenschwein etc. waren da noch die harmloseren Dinge. Er wolle dafür sorgen, das ich vom Bahnarzt ausgemustert werde und meinen Job verliere.
Bäääämmmm, der nächste Schlag ins Gesicht. Hing für mich gedanklich ja trotz allem meine ganze Existenz an dem Job. Musste ja Miete etc alles bezahlen.
Mein Weg führte übrigens an einer Bahnstrecke lang. Und ja, der Gedanke einen Schlussstrich zu ziehen war da. Was mich davon abgehalten hat?
Einmal die Perspektive des Lokführers selbst zu kennen (meine Zahl lautet 4, nie einen erwischt, aber es ging teils um cm) und zudem, das Kinder unterwegs waren und ich denen das Erlebnis auf keinen Fall antun könnte.
Zu meinem ganz großen Glück erreichte ich meine quasi „Patentante“ in ihrem Schwarzwaldurlaub. Sie schaffte es, mich erst mal etwas runter zu sprechen und aufzufangen. Danach erreichte mich ein Anruf von der guten Freundin vor Ort, welche mich dazu verdonnerte jetzt nur heim zu fahren und dort auf sie zu warten, bis sie von der Arbeit kommt.
Dies tat ich und telefonierte von dort erstmal die Kliniken im Umkreis ab, ob sie überhaupt Ahnung von ADHS bei Erwachsenen haben (war leider vor 13 Jahren noch nicht sehr bekannt, man ging komischerweise davon aus, das die Krankheit mit dem 18 Geburtstag verschwindet ?!?!???) und für mich ganz wichtig, ob es WiFi gibt u ich mein Notebook mitnehmen kann. Schließlich waren Unmengen liegengebliebener Arbeit aufzuholen, weil mein Internetanbieter auch nach Monaten nicht in der Lage war, den Umzug zu regeln.
Nun, für letzteres gab es von allen Kliniken eine klare Absage. Leider ebenso für den Klinikplatz, alle rappelvoll, nur mein zuständiger Pflichtversorger hätte mich, mit Bett auf dem Gang, aufgenommen. Als letzten Versuch rief ich in der Spezialambulanz für ADHS bei Erwachsenen im Ulm an, wo ich auch wenige Monate zuvor die Diagnose bekam. Dies war abgesehen von meinem Bereitschaftsleiter, auch die einzige Ärztin, zu der ich aufgrund meiner Vorgeschichte überhaupt Vertrauen hatte. Ich hoffte natürlich sehr, Sie daher auch als behandelnde Ärztin zu haben. 10 min später erfolgte ihr Rückruf, Mo 0900 einrücken. Leider war sie dann nicht meine behandelnde Ärztin, der zuständige Doc wollte zwar ständig auch Rücksprache mit ihr halten, aber gefühlt hatte er wenig Ahnung von ADHS bei Erwachsenen.
Nun, das WE verbrachte ich dann komplett bei besagter guter Freundin, was sicherlich richtig und gut war. Sie sorgte für Ablenkung und vor allem war ich nicht alleine. Am Mo in der Klinik eingecheckt kam dann erstmal die Vollbremsung von 200 auf Null. Ich bin die Wände hochgegangen. Es folgte eine verdammt harte und anstrengende Zeit. Eine Zeit, in der ich langsam wieder lernte zu leben. Eine Zeit, die zum kompletten Bruch mit meinen Erzeugern führte, weil sie mir deutlich, u. A. im gemeinsamen Arztgespräch, gezeigt hatten, dass ich selbst, wie ich mich fühle und was ich möchte, nicht zähle, sondern nur das, was sie für richtig halten und sich vorgestellt hatten. Ich musste mich tatsächlich im Zimmer einschließen und vom Pflegepersonal von meinen Erzeugern abgeschirmt werden, weil diese sich weder an zeitliche Absprachen (2std zu früh stehen sie plötzlich auf Station, habe zum Glück das Spiegelbild im Fenster gesehen) noch sonstige eindringliche Ansagen meinerseits u von meiner „Patentante“ gehalten und gehört haben. Stattdessen nur ein Vorwurf nach dem Anderen, und warum ich denn jetzt nicht vorher oder nach dem Termin mit zu Ikea möchte !!!!!! Als wenn ich das nicht schon im Vorfeld jedesmal auf die >20 SMS geantwortet hätte.
Nun, ihr könnte es euch sicher denken. Ich war natürlich nicht nach 2 bis 3 Wochen wieder raus und habe funktioniert. Zu der ADHS Diagnose gesellte sich nun die der schweren depressiven Episode. Übrigens denke ich mittlerweile, die Depressionen habe ich schon seit meiner Kindheit. Ich habe mich immer „anders“ gefühlt, war immer der Außenseiter. Ich habe zwar kaum noch Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend, nur einzelne kleine bruchstückhafte Fragmente, aber dieses Gefühl herrschte vor.
Insgesamt war ich also 4 Wochen stationär, danach 3 Monate in der Tagesklinik. Es folgten dann noch einmal 3 Monate „Reha“ im Sinne der Berufsfindung, weil ich von Anfang an Klar war, dass ich nie wieder als Bahner arbeiten werde. Danach nochmal 6 Monate Berufsvorbereitung mit Heranführung an die Arbeitszeiten etc. Insgesamt war ich bis zum Beginn meiner Umschulung zum Elektriker gute 1,5 Jahre krank geschrieben.
Natürlich gab es während der Umschulung und auch die ganzen Jahre danach, bis heute, immer wieder anstrengende Hindernisse und Probleme. Dies wird auch in Zukunft so bleiben. Depressionen können zwar sehr gut behandelt und auch medikamentös eingestellt werden, aber leider haben sie auch oft die Eigenschaft immer mal wieder verstärkt in Schüben aufzutreten. Zusätzlich Verstärkt und erleichtert wird das natürlich durch äußere Belastungen und Stressfaktoren. Je nach eigenem Belastungslevel kann Mensch sich da recht gut wieder in einen ordentlichen Schub bugsieren. Daher ist es, auch wenn es mir selbst sehr schwer fällt, so verdammt wichtig, auf sich zu achten. Aufzupassen, auf mein Wohlbefinden und mein Belastungslevel, damit ich rechtzeitig gegensteuern kann. Ich selbst merke das z.B. oft daran, leider immer erst nachdem es schon zu spät ist, das ich sehr genervt und pampig reagiere und antworte, wenn ich mich extrem gestresst fühle. Leider dann auch gelegentlich gegenüber meinem Chef und ganz selten merken auch die Kunden was davon. Das ist dann aber der Punkt, wo ich definitiv die Reißleine ziehen muss. Das Paradoxon ist, durch mein ADHS brauche ich ein recht hohes Stress- und Drucklevel, damit ich überhaupt was vernünftig auf die Reihe bekomme. Nur von den 60-70% um zu funktionieren, sind es dann sehr schnell die 80-100% die dann zu viel werden.
Wie sehr wünsche ich mir, einfach einmal etwas ohne größere Probleme zu schaffen. Nicht immer nur kämpfen zu müssen. Ich bin seit damals in therapeutischer Begleitung. Nehme seit damals durchgehend in teils nicht zu knappen Dosen Medikamente. Auf das ADHS Medikament werde ich vermutlich nie verzichten können. Das Antidepressivum wäre irgendwann schön, aber unrealistisch. Dennoch kann ich eigentlich Stolz darauf sein, die letzten 9 Jahre in der Firma ohne Ausfall aufgrund meiner psychischen Erkrankung ganz normal in Vollzeit gearbeitet zu haben. Die letzten 3 Wochen waren das erste Mal seit damals, das ich aufgrund meiner Depression krank geschrieben wurde. Sogar 2 Wochen stationär in die Klinik bin. Ok, ich könnte jetzt sagen, dass war primär für eine überwachte Medikamentenumstellung. Das bisherige Antidepressivum wurde abgesetzt und durch ein anderes ersetzt. Aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Mir ging es seit langem aufgrund der aktuellen Corona Lage nicht mehr wirklich gut. Lange noch nicht so schlimm, wie vor 13 Jahren, aber ich muss ja nicht immer das ganz große Programm mitnehmen. Daher auch die Medikamentenumstellung als Versuch einer besseren Wirksamkeit. Nach 13 Jahren kann sich der Körper ja auch daran gewöhnt haben.
Ok, was ich euch mit diesem viel zu langen (bisher 4 DinA4 Seiten in Größe 10, 2.428 Wörter) Roman eigentlich erzählen möchte. Es geht immer irgendwie weiter. Versucht die Hoffnung nicht aufzugeben, auch wenn es verdammt schwer ist. Bitte versucht euch Hilfe zu holen. Redet mit Menschen, denen ihr vertrauen könnt. Ich sage sicherlich nicht, dass es einfach wird. Das wird es in den wenigsten Fällen. Aber es lohnt sich, auch wenn man es gerade nicht sehen kann.
Und es ist mit Sicherheit nicht mit den „tollen“ Sprüchen wie „Du musst nur mal wieder raus gehen!“; „Reiss dich mal zusammen!“; „Du willst es nur nicht richtig!“ ;“Du bist nur zu Faul!“ etc…… getan. Diese Sprüche sind einfach nur Napalm ins Feuer der destruktiven Gedanken. Wenn es so einfach wäre, dann bräuchte es den Großteil des gesamten Psychiatrischen Behandlungszweiges nicht.
Wir Betroffenen können eigentlich verdammt Stolz auf uns sein. Wir sind nämlich eigentlich verdammt stark. So verdammt stark, dass wir den harten Weg der Therapie und der Auseinandersetzung mit uns selbst durchstehen. Und dennoch reicht oft genug die Kraft dann für die kleinsten Dinge nicht mehr aus. Kennt ihr die Löffeltheorie? Eine, wie ich finde sehr gute, Beschreibung wie es ist, aufgrund einer Erkrankung nur ein begrenztes Level an Energie zur Verfügung zu haben und damit haushalten zu müssen. Ursprünglich kommt diese Beschreibung von der US-Amerikanischen Lupus-Expertin und Bloggerin Christine Miserandino um ihrer Freundin zu beschreiben, wie es ist, permanent mit einem begrenzten Energielevel aufgrund ihrer Lupuserkrankung auskommen und planen zu müssen. Sie trifft aber auf sehr viele Krankheiten, insbesondere chronische und sehr oft auch „unsichtbare“, zu.
Hier der Originaltext und Blog von Christine Miserandino
https://butyoudontlooksick.com/articles/written-by-christine/the-spoon-theory/
Hier der Link zum englischen Wikipedia
https://en.wikipedia.org/wiki/Spoon_theory
Und hier eine deutsche Erklärung vom VDK Berlin/Brandenburg https://www.vdk.de/berlin-brandenburg/pages/76831/spoontheory
Mir fällt es oft verdammt schwer, Dinge zu tun, die mir eigentlich gut tun. Momentan kommt durch Corona ja sowieso nochmal hinzu, dass viele Hobbies nicht mehr oder nur eingeschränkt möglich sind. Auch Treffen mit anderen Menschen ist nur eingeschränkt möglich bzw. selbst wenn erlaubt schlichtweg infektiologisch gesehen einfach nicht sinnvoll.
Zum Beispiel „Du musst einfach mal raus eine Runde spazieren gehen!“
Ganz ehrlich, meine Gedanken sind dann: Wieso sollte ich jetzt alleine um den Block rennen. Dann kann ich auch liegen bleiben. Mir persönlich würde ein Spaziergang oder z.B. Radtour zwar durchaus gut tun, aber bei mir ist es halt dann auch die Gesellschaft, die mir fehlt. Und selbst bei guten Freunden möchte ich mich halt dann auch nicht ständig melden und fragen. Das gibt mir dann wieder das Gefühl der Bittsteller und die Nervensäge zu sein. Mir persönlich würde es helfen, wenn ihr mich als Person einfach öfter mal fragt und von euch aus mitnehmt. Bitte verzagt dann auch nicht, wenn ich manchmal immer wieder Absage. Bleibt bitte trotzdem dran, aber sagt auch klar, wenn es euch zu viel wird. Ich weis, ich persönlich kann sehr anstrengend sein und einem das Ohr abquasseln. Vielleicht gerade weil mir eben der Austausch so fehlt. Bitte sagt dann auch klar, was ist, und woran es liegt, statt sich einfach immer weniger zu melden. Zumindest ich habe dann immer das Gefühl, ich habe wieder was falsch gemacht und weis nicht warum bzw beziehe es auf mich und mein Selbstbild.
Nehmt mich mit bei Aktivitäten, aber auch im „normalen“ Alltag.
Es muss nicht immer der große Ausflug etc. sein. Für mich als alleine lebender Mensch ist der ganz normale Alltag bei Freunden schon einfach ein Zeichen dazu zu gehören. Es braucht kein Sonderprogramm, kein aufwendiges Essen, kein Bohei. Im Gegenteil, klar ist es schön, mal bedient zu werden, aber ich mag dieses ganze Bohei echt nicht. Komme mir dann wieder als Belastung vor. Ich bin absolut glücklich damit, einfach einen normalen Alltag zu erleben. Ich habe kein Problem damit den ganzen Tag die Kids zu bespaßen oder bei Hausaufgaben helfen, ggf. im Haushalt mit anpacken, Wäsche auf/abhängen, etc.… macht mir nichts aus. Und der schnelle Topf Nudeln tut es allemal. Viel viel wichtiger ist das Gefühl ein Stück dazu gehören zu dürfen, einfach sein zu dürfen. Ja, bei mir selbst zumindest auch, eine „Familie“ zu haben. Aber ich schaue sehr ungern einfach vorbei, weil ich es verinnerlicht habe grundsätzlich alle und jeden erst mal zu stören. Ganz egal, ob diejenigen es ja dann einfach sagen könnten, wenn dem so sei. Daher wenn es euch möglich ist, macht gerne das deutliche Angebot einfach rum zu kommen und am Alltag teilzuhaben. Aber sagt bitte auch klar, wenn es gerade nicht passt.
Ich zehre oft noch wochenlang von solchen „banalen“ Alltagstagen. Wisst ihr wie das ist, wenn ich Freunde besuche und deren (kleinen) Kids stehen schon außer sich vor Freude in der Tür und werfen sich in deine Arme? Diese ehrliche ungefälschte kindliche Freude auf einen Menschen….. So ungefähr stelle ich mir einen Drogentrip vor.
Ich weis nicht, was aus mir geworden wäre, hätte ich mich damals nicht meinem Bereitschaftsleiter anvertraut. Ich kann nicht sagen, was passiert wäre, hätte ich einfach weiter gemacht. Aber irgendwas wäre mit Sicherheit passiert. Keine Ahnung, ob ich heute überhaupt noch leben würde. Aber ich kann mit Sicherheit sagen, ich wäre nicht der Mensch, der ich heute bin. Lieber T. solltest du das hier lesen, vielen vielen Dank.
Dies ist natürlich nur ein ganz kleiner gekürzter Ausschnitt aus dieser ganzen Zeit und meinem Leben. Vieles, auch gerade was davor statt fand, spielt natürlich eine große Rolle, wurde hier aber nicht weiter ausgeführt. Auf meinem langen Weg davor und nach diesem Datum haben mich auch ganz viele Menschen und Begegnungen begleitet, geprägt und getragen.
Liebe E. du bist für mich einer, wenn nicht sogar der wichtigste Mensch in meinem Leben. Du hast mich schon in dem ganzen Diagnosekrimi für das ADHS begleitet und getragen. Ohne dich und deine Begleitung wäre ich damals überhaupt nicht mehr zu dieser Ärztin in die Spezialambulanz gegangen, welche mein Leben verändern sollte. Du hast mich gegenüber meinen Erzeugern verteidigt und versucht als Mittelsfrau zu agieren um mich vor dem direkten Kontakt zu schützen. Dies hat dich deine Freundschaft mit Ihnen gekostet. Für mich bist du meine „Patentante“, du bedeutest mir so ziemlich am meisten auf der Welt und hast mich sicher sehr geprägt. Trotz nur sehr seltenen sporadischen Kontakts ist da immer eine enge Verbindung gewesen. Umso trauriger bin ich, das wir uns anscheinend langsam voneinander entfernen zu scheinen und du dir meine Gegenargumente nicht einmal ansiehst. Ich habe Angst um dich, dass du da in was rein rutscht.
Liebe K. und liebe Familie F. ohne euch hätte ich das wohl alles nie geschafft. Danke, dass ihr mich in dieser schweren Zeit begleitet habt. Euren Anruf an Heiligabend, was ich denn mache und der Ansage gefälligst sofort zu euch rüber zu kommen, werde ich nie vergessen. Das war eines meiner allerschönsten Weihnachten überhaupt. Danke fürs Zuhören, da sein, Aushalten etc. Bei euch konnte ich das erste Mal einfach sein.
Liebe C. u Familie F.-G., ich habe euch vor 12 Jahren durch Zufall an einer Bushaltestelle, während ich in der Reha war, kennengelernt. Eure nun Mittlere sollte kurz darauf geboren werden. Aus dieser Zufallsbegegnung mit einem Luftballontier für eure Erstgeborene ist eine enge Freundschaft entstanden. Danke, dass ihr mich auf meinem Weg begleitet habt, das ich euch zu meinen guten Freunden zählen darf, auch wenn der Kontakt wie immer viel zu selten ist.
Liebe Familien S. und B. durch euch habe ich zu meinem Hobby Mittelalter gefunden. Lieber T. durch dich bin ich für meine Umschulung hier gelandet. Ihr habt mich hier begleitet und aufgefangen, wenn wieder alles zu viel wurde. Durch euch durfte ich meine Ruhe im Mittelalter und meiner Kerzentaucherey finden. Danke, das ihr mich ein Stück meines Lebens begleitet habt.
Lieber S. mit Familie, ich hatte verdammt großes Glück dich in der gemeinsamen Umschulung kennen zu lernen. Es ist ein verdammt gutes Gefühl dich/euch als Freunde zu wissen. Und es war echt geil dich auch eine Zeit lang als Arbeitskollegen zu haben. Danke für eure Freundschaft. Ihr seid ein Teil Familie für mich geworden.
Liebe Familien E. und B. Danke für eure Freundschaft. Tut verdammt gut euch zu kennen und als Freunde zu wissen. Danke, fürs da sein, aber auch für die Gegenargumente. Danke das ihr zu „meiner“ Familie geworden seid.
Wahrscheinlich habe ich noch jede Menge Menschen vergessen, die ebenso einen kleineren oder größeren Teil meines Lebens geprägt haben und für mich da waren. Nicht zu vergessen, die Menschen aus diesem Internet. Danke auch an euch.
Danke Markus, das ich diesen letzte Woche am 2. Mai spontan auf Twitter geteilten Text hier veröffentlichen darf. Wenn ich nur einem Menschen damit helfen und ermutigen kann sich Hilfe zu holen, habe ich mein Ziel schon erreicht. Danke auch für deine Arbeit und Vorträge. Es ist so verdammt wichtig darüber zu reden.
Danke auch euch Menschen, die ihr gerade diesen viel zu langen Text gelesen habt. Ich weis das zu schätzen.
In diesem Sinne beenden wir den Roman nun bei rund 4.000 Wörtern ohne den Anhang, und lasst uns das Glas erheben.
Auf das Leben und die Menschen, die es lebenswert machen.
Cheers
Ein Kommentar
Es ist sehr bereichernd und berührend diesen Beitrag zu lesen, der so voller Dankbarkeit und Liebe ist!
Und wieviel Kraft darin steckt.
Ich bin beeindruckt von 9 Jahre in Vollzeit arbeiten, ohne wegen psychischer Erkrankung krankgeschrieben zu sein. Weiß nicht, ob ich das schaffen würde. Aber darum geht es ja auch nicht.
Jedenfalls hätte ich auch 8000 Wörter gelesen, so toll, wie der Text geschrieben ist.
Und ich wünsche Ihnen weiterhin viel Unterstützung und Kraft!