Die Natur. Die Stille. Und ich.

Die Welt da draußen. Sie ändert sich. Permanent und unaufhaltsam. Während ich oft das Gefühl hatte, dass bei mir alles zum Stillstand gekommen ist. Gefangen in meiner Welt. Gefangen in einem Kreislauf aus Gedanken und Verhaltensmustern, die mich an den Abgrund meines Daseins gebracht haben. Gefangen in vier Wänden, die ich in meinen schwierigen Phasen nicht mal bezahlen konnte. Und auch das hat mich noch mehr in diesen Räumen gefesselt. Gefangen in einem Leben, das ich so nicht wollte. In Kreisläufen, die ich mir mit meinem Nichthandeln selbst aufgebaut habe. Gefangen und dazu genötigt, den Blick wahlweise auf die nackte Tapete, den flimmernden TV oder Computer zu richten, damit ich abgelenkt bin. Die Welt da draußen? Hat für mich in der Zeit nicht stattgefunden. Es wäre für viele sicher einfach gewesen, den Schritt vor die Tür zu machen. Auch für mich. Ich wollte es. Ich wollte das raus. Unbedingt! Und genau das hat mich weiter gelähmt.

Ich habe entschieden, in der Großstadt zu leben. Es war laut, rastlos und immer etwas los. Kurze Wege, gute Erreichbarkeiten, immer wer da. Es war anonym. Einer von sehr vielen zu sein, war angenehm. Nicht mehr auffallen, nicht mehr von jedem gekannt werden, der mich irgendwo gesehen hat, der mich anspricht, der fragt, ob ich Zeit habe. Ich hatte das Gefühl, es wäre einfacher, mich dort zu verstecken. Und vielleicht würde es auch dort nicht mehr auffallen, wenn ich nicht mehr da bin. Es ist doch wie in einem sozialen Netzwerk. Je mehr Menschen du folgst, desto schwieriger wird es zu sehen, wer der eine ist, der plötzlich fehlt. (Ja, du kannst immer gezielt jeden Tag gucken, ob alle da sind. Machste doch aber nicht, oder?) Wer ist es, der seit Tagen kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat? In der Masse von Menschen zu verschwinden, erscheint einfach. Ist der Gedanke nicht sogar etwas abstrakt? Wäre es mit dem Leben auf dem Dorf nicht einfacher? Nein. Die Menschen kennen mich vielleicht nicht, aber sie grüßen, sie sortieren in Schubladen, sie sehen meinen Tagesrhythmus. Auch wenn mich keiner anspricht, wird hinter der Tür darüber gesprochen. „Das Auto steht schon wieder drei Tage vor der Tür.“ „Er hat jetzt die ganze Woche gar keinen Sport gemacht, ich habe ihn nicht gesehen.“ Und so weiter. Ich war allein. In der Stadt.

Ich war oft aber auch so allein, dass niemand da war, der mir die Schönheit der Welt da draußen wieder zeigen konnte. Es war niemand da, der mir eine Zeit lang die Hand gereicht hat, auch wenn es aussichtslos sein musste, und mit mir ein Stück des Weges gegangen ist. Dabei war ich doch der, der immer draußen war. Immer. Ständig. Bei jedem beschissenen Wetter. Ich war der, der manchmal stundenlang mit seinem Rad ziellos durch die Gegend gefahren ist. Ich war auch der, der am See auf dem Rücken gelegen hat, die Stöpsel vom Walkmann mit der Metallica Kassette im Ohr steckend den Flug der Wolken beobachtet hat. Ich habe die Natur und die Freiheit geliebt. Es war meine Freiheit und Flucht aus einer Welt, die mich erdrückt hat.

Ich habe das alles verloren. Alles. Es hat mich nicht mehr interessiert. Und wenn es mich interessiert hat, hat mich die Sehnsucht zerrissen, weil es so undenkbar weit weg erscheint und nicht mehr greifbar sein wird. Ich habe mir verboten, diese „Auszeiten“ zu nehmen – wenn es überhaupt möglich war. Ich hab es mir verboten, weil es schlichtweg wichtigere Dinge gibt, um die ich mich kümmern muss. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Und du schaffst es doch sowieso nicht.“ Richtig. Ich habe es nicht geschafft. Weder das eine, noch das andere. Und schon war ich wieder gefangen. In diesen vier Wänden. Kein Antrieb. Voller Frust. In Gedanken versunken. Zerfressen von Sehnsucht. Suchend nach Hilfe. Schweigend vor lauter Angst.

Es ist wieder da. Dieses „draußen sein wollen“. Sogar so, dass es mich stört, wenn ich ein paar Tage nicht raus kann. Es ist keine Flucht, weil ich viel zu lange eingesperrt war. Es ist eine wunderschöne Zeit da draußen, in der ich die Natur und meine Welt wieder wahrnehmen kann. Den Wecker extra früh stellen, um den Sonnenaufgang zu sehen. Spät nochmal raus, um die Sonne untergehen zu sehen. Ich habe gelernt, dass es sich lohnt, die gewohnten Wege zu verlassen. Die Natur ist still. Sie spricht leise und unnachgiebig. Ich muss nicht immer etwas machen. Ich muss nicht Bestzeiten fahren, Kilometer runterholzen oder Vollgas treten. Ich kann auch bewusst anhalten und diesen Moment genießen. Mit mir und der Natur. Mich beeindruckt, was dort draußen alles passiert. Weg von der Stadt. Dort im Wald, am Meer oder in den Bergen. Ich hatte noch nie die Sehnsucht in irgendwelche Länder zu fliegen. Es liegt alles vor meiner Tür. Das ist das, was ich entdecken möchte. Ich weiß, warum ich versuche aufzustehen und rauszugehen. Meine Momente (er)schaffen. Beobachten. Zuhören. Den Wind fühlen. Bei jedem Wetter. Alles was nass wird, trocknet doch auch wieder. Alles was dreckig wird, bekomme ich schon wieder sauber. Ich bin dankbar, diese Zeit da draußen zu haben.

Ich habe aufgehört, darüber nachzudenken, wie lange ich noch mit mir verbringen muss. Dafür habe ich angefangen nachzudenken, wie schön ich es mit mir noch machen kann.

Und ist es nicht oft der erste Schritt, der uns so bremst? Aufstehen, anziehen, rausgehen. Der erste Schritt. Wie oft habe ich mich dabei erwischt, dass ich mich gefragt habe, ob es sich zu einer bestimmten Uhrzeit noch lohnt? Unzählige Male. Und bin dann abgedriftet, habe es kaputt gedacht und habe gemerkt: „Na, jetzt ist es zu spät. Jetzt musste auch nicht mehr.“ Ich habe es gehasst. Wie die Pest! Aber es war da und hat auch nicht aufgehört. Packe ich die Sinnfrage dazu, bewege ich mich gar nicht mehr. Wie oft habe ich mich gefragt: „Kann ich das jetzt machen? Kann ich das wirklich? Ich würde ja gerne.“ Natürlich gibt es eine Antwort auf die Frage. Ich selbst habe mir das immer verneint. Ich habe ja intensiv gelernt, dass ich nichts kann. Also lasse ich es. Ist auch besser so. Was sollen die anderen von mir denken?

Es vernebelt aber auch den Blick auf die wirklich wichtige Frage: „Will ich das machen?“ Die lässt nur zwei Antworten zu. Ja und Nein. Unabhängig davon ob ich es kann, weiß ich so ein Stück mehr. Ich will das machen. „Was brauche ich, damit ich es machen kann? Was muss passieren, damit ich es mache? Wie würde ich mich hinterher fühlen, wenn ich es gemacht habe?“ Fragen, die mich zu mehr Verbindlichkeit bringen. Fragen, die ich mir sinnvoll beantworten kann. „Ich will die 150 km Weserrunde fahren. Ich brauche etwas Unterstützung, weil ich Angst habe, dass ich es nicht schaffen kann. Ich werde mich wahnsinnig gut fühlen und stolz sein, wenn ich ankomme.“ Ich bin es gefahren. Ich habe die Unterstützung vorher bekommen – unter einem Tweet, als ich gefragt habe, ob ich es schaffe. Es ist doch legitim, den Zuspruch von außen zu bekommen. Es ist legitim, dass andere dir dieses bisschen Mut geben, weil sie daran glauben, dass du es kannst. Ich war – und bin immer noch – stolz. Mit allen anderen Sachen – egal wie groß oder klein – kann ich das genauso machen. Ich habe es genauso gemacht. Ich habe mich gefragt, ich habe mir geantwortet und ich habe erreicht, was ich für mich vorher festgelegt habe. Das gute Gefühl.

Ich habe dadurch sehr viel mehr gewonnen, als ich mir vorgestellt habe. Ich bin wieder da, wo ich war. Draußen sein und das Leben aufsaugen. Ich liebe es, nicht mehr in der Stadt zu wohnen. Ich liebe es, die Sonne auf- und untergehen zu sehen. Ich liebe es, Dinge auszuprobieren. So wie damals, als ich mit dem Rad durch die Wälder geschossen, an der Kieskuhle über Hügel gefahren und Kilometer auf der Straße gestrampelt bin. Wild und verrückt sein, egal welche Zahl ich als Alter habe. Die Welt da draußen sie ändert sich. Und meine jetzt auch. Mit jedem neuen Schritt. Mit jedem Moment, den ich erlebe. Ich ändere meine Welt.

„Den Trail kannste nicht mit nem Crosser fahren! Du brauchst ein richtiges MTB! Das wird so nichts.“ Und dann kam ich. Ich habe das einfach gemacht. Es hat gerockt.

Ich habe bei einem Vortrag mal die wichtige Frage bekommen, ob ich Angst davor habe, wieder in eine schwere Phase zu rutschen. Wenn ich draußen bin, denke ich manchmal darüber nach. Und ich lächle. Nein, ich habe keine Angst mehr. Ich habe Menschen um mich herum, die die Tür zu meinem Gefängnis aufschließen können, wenn ich es nicht mehr schaffe. Sie können die richtigen Fragen stellen oder einfach nur da sein. Ich habe meine Texte, mit denen ich mir klarmachen kann, wie wichtig so eine Phase ist. Aber auch, um mir vor Augen zu führen, zu was ich imstande sein kann, auch wenn vermeintlich nichts mehr geht. Ich habe das Bild von mir ganz gut zurechtgerückt. Ich mag, was ich tue. Und ich kann mir verzeihen. Und wenn nichts mehr geht, ich sehnsüchtig in meinem Sessel sitze, frage ich mich eben, was ich brauche, damit ich morgen wieder aufstehen kann. Was ist, wenn ich mir meine Gefängnisse viel zu oft selbst erdacht habe, weil ich geglaubt habe, nicht irgendeiner Norm zu entsprechen? Ich wäre frei.

Was ist es bei dir? Was würdest du gerne mal machen, traust dich nicht, zerdenkst es dir und überlegst andauernd, ob du das wirklich kannst? Was bräuchtest du, damit du morgen genau das machen kannst?

Auch interessant ...

6 Kommentare

  1. Mal wieder hast du die richtigen Worte gefunden. Nach einem sehr harten Jahr , bin ich endlich auf dem Weg aus der Dunkelheit.
    Lg micha

  2. Es baut mich auf, so viel Kraft und Energie in deinem Text zu lesen. Es kann also auch unerdenklich (aus heutiger Sicht) besser bzw schön werden. Leider kann ich mir die Frage „was brauche ich…“ nicht beantworten. Ich hoffe ich finde den Schlüssel für meine Tür…

    Und lieben Dank für all deine guten Texte.
    LG Gertrud

  3. Wenn mir die Worte fehlen finde ich sie oft in deinen Texten,danke dafür. Du sprichst mir aus der Seele.

    liebe Grüße
    Tanja

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert