Die Gedanken. Dein Gefängnis.

Ist dir eigentlich bewusst, wie oft du am Tag denkst? Merkst du, dass das Leben ohne Gedanken überhaupt nicht funktioniert? Hast du dich mal beobachtet, wie oft du dir selbst ein Gefängnis mit deinen Gedanken schaffst? Gedanken. Sie erschaffen unsere Welt. Sie lassen uns Träumen oder reißen uns zu Boden. Sie geben uns Schwung, motivieren und stärken uns, geben uns ein gutes Gefühl. Sie können aber auch alles Gute vernichten. Sie sind erdrückend, zeitraubend, lähmend, fesselnd und lösen genauso Gefühle aus. Oft auch Gefühle, die wir nicht gebrauchen können. Mit Gedanken kann ich mir mein eigenes Gefängnis erschaffen. Ich habe mir mein Gefängnis über Jahre so gut aufgebaut, dass ich es selbst kaum schaffe, meine Mauern im Kopf einzureißen.

Jede erlebte Situation hat eine eigene Zelle. Ein kleiner Raum, in den ich gedanklich gehe, die Tür hinter mir zufällt und ich auf diesem Fliesenboden stehe. Das Waschbecken mitten im Raum an der Wand, die Toilette nur mit einer dünnen Stellwand abgetrennt, der Klodeckel hält nicht mehr richtig. Ein Fenster mit Betongitter, dass so hoch ist, dass ich auf das Bett klettern muss, damit ich rausgucken kann. Die Zelle ist abgenutzt. Sie ist alt. Ich kann mich überall hin frei bewegen, nur das Gelände verlasse ich nicht. Ich kann in den Hof, ich kann draußen sitzen und doch zieht es mich abends immer wieder nach drinnen. In eine dieser Zellen.

„Du bist, was du denkst!“

Es sind nicht nur Gedanken. Es wurde zu meiner Wahrheit. Zweieinhalb Monate habe ich im offenen Vollzug verbracht. Zweieinhalb Monate, in denen ich mit mir Gefangen war. Zeit, die ich absitzen musste, weil ich mich mein Leben lang nicht ausreichend – wenn überhaupt – um meine Sachen kümmern konnte. Zweieinhalb Monate im offenen Vollzug, weil ich es nicht geschafft habe, meine auferlegten Sozialstunden zu leisten und mich rechtzeitig beim zuständigen Richter zu melden, warum ich zu der Zeit nicht in der Lage war, meiner Aufgabe nachzukommen. Ich war zu Hause gefangen. Ich hatte eine schwere depressive Episode, habe mich versteckt, soziale Kontakte einschlafen lassen, mich um nichts kümmern können, nur abgelenkt und mich versteckt. Vor allem vor mir versteckt. Über 10 Jahre haben sich die Gedanken so manifestiert, dass mir klar war, dass ich die Sachen überhaupt nicht schaffen werde. Ich habe in der Zeit solange gedanklich auf mich eingeprügelt, bis ich es geglaubt habe. Beweise gab es dafür ja genug. An jeder Ecke. Direkt vor der Nase. In jedem Bereich. Verlorene Jobs, gescheiterte Beziehungen, Lügen um belastenden Gesprächen aus dem Weg zu gehen, versteckte Post. Das komplette Programm. Und immer wieder diese erdrückende Kraftlosigkeit. Ich war, was ich gedacht habe. Nicht fähig und überflüssig. Ich werde mein Leben nicht hinbekommen.

Mein Zimmer hat gute 10 Quadratmeter. Immerhin habe ich ein kleines Badezimmer, Schreibtisch und Blick in den Kurpark. Was man denn so Kurpark nennen kann. Ein paar geschwungene Wege, die man im Rundkurs laufen kann, vier Bänke zum Sitzen, eine Tischtennisplatte, Rasen, gepflegte Büsche und einen Kickertisch. Ich habe mein Zimmer für mich. Immerhin. Es ist kein guter Tausch. Letzte Woche waren wir doch noch auf Fehmarn und wir wollten mein Geburtstag feiern. Letzte Woche wusste ich aber auch schon, dass mich Post erwartet, die mich hier herbringen wird. Und nun bin ich hier. Einen verblichenen Trainingsanzug, der in der hauseigenen Wäscherei vom Schweiß etlicher anderer Menschen gereinigt wurde, den darf ich tragen. Er passt nicht mal richtig. Meine Sachen sind noch in der Kontrolle. Kontrolle? Ja! Das einzige, was ich gerade wirklich besitze? Sind ein paar Blätter weißes Papier, einen billigen Stift und ein Päckchen Tabak, das mir der nette Mensch eben mit Blättchen überlassen hat. Kein Feuer. Keine Ahnung, wie ich die Zigaretten anbekommen soll. Keine Ahnung, ob ich das wirklich so überstehe, wie ich mir das vorgenommen habe. Die Tür zu meinem Zimmer ist zu. Die nächsten zwei Stunden auf jeden Fall. Ich habe jede Menge Fragen, aber niemanden der sie mit beantworten kann. Ich bin allein. Und ich werde es die nächsten 5 Monate sein. Zum ersten Mal fühle ich mich erleichtert. Zum ersten Mal fühle ich mich frei, auch wenn alles erdrückend sein sollte. Ich bin auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Ich habe nichts mehr zu verlieren.

Wer mich schon gesehen oder gehört hat, wird diese Zeilen kennen. Es ist der Ausschnitt meiner ersten vier Wochen in der JVA. Geschlossener Vollzug. Ein völlig anderes Leben. Die Zellentür ist zu. Ein paar Mal am Tag ist sie auf, um mein Essen abzuholen, auf dem Flur zu spazieren, mit anderen zu reden oder eben für den Freigang im Hof. Mehr nicht. Es war die wichtigste Zeit. Eine Zeit, in der ich beschlossen habe, alles über mich aufzuschreiben und mich kennenzulernen. Besser kennenzulernen. Wenn ich da mit mir alleine war, gab es keine Ausreden. Nur mich, die Gedanken und das Papier. Ich habe mich entschlossen, nach der JVA ehrlich zu sein, andere Wege zu gehen, mehr Ich zu werden. Geändert? Das hat nicht so schnell etwas, wie ich mir das vorgestellt habe. Es war der Anfang zur Veränderung.

Der erste Gedanke als klar war, dass ich die Ladung zum Strafantritt bekomme: „Genau so musste es passieren. Du hast dein Leben nicht hinbekommen und jetzt kommt das, was passieren soll.“ Ich habe schlimme Tage mit Suizidgedanken durchlebt. Es war klar, dass ich alles verlieren werde – und auch das war nur ein Gedanke. Ich habe nicht alles verloren. Aber die Zellentüren in meinem Kopf sind alle aufgegangen, die Stimmen haben wild durcheinander gebrüllt und ich konnte mich nicht mehr wehren.

Es ändert sich, wenn du es willst.

Es ist einfach zu sagen, dass ich „nur mal eben anders denken muss“. Die über Jahre antrainierten Muster lassen sich nicht einfach abschalten. Und es gibt oft genug Situationen im Alltag, da ist der Sprung zurück in die „alte“ Denkweise viel einfacher, als mich so anzunehmen, wie ich bin. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich jetzt endlich verstanden habe, dass ich ein wertvoller und liebenswürdiger Mensch bin. Nur eben nicht für jeden.

„Was mache ich denn schon?“ „So besonders ist das auch nicht?“ „Ach, nicht der Rede wert.“ Standardsätze im Kopf. Dabei werte ich nicht nur mich selbst, sondern auch meinen Gegenüber ab, der mir ein Kompliment machen möchte. Im Kopf fest verankert ist: „Du reichst nicht. Du wirst nie reichen. Du kannst perfekt sein, es wird nie genug sein.“ Doch! Mittlerweile reicht, was ich mache. Vor allem muss es mir reichen. Ich muss mir genug sein. Wie ich dahin gekommen bin? Ein jahrelanger Weg mit „Versuch und Fehler“, bis die richtigen Momente kamen um zu merken, dass ich gut bin. Ich mache nach wie vor Fehler in meinem Leben, aber dazu kann ich stehen. Ich kann für mich einstehen. Dennoch sind die Strukturen noch da. Wenn ich nicht aufpasse. Nehmen wir mal Montag. Montag ist der Tag, an dem ich nach der Arbeit direkt zum Schwimmen fahre. Bin ich auch. Ich bin rein, Karte vorgezeigt, Stempel bekommen, in die Umkleide und *trommelwirbel* alles bis auf die Badehose vergessen. Verkackt! „Das war ja klar. Es war total klar, dass du das wieder nicht hinbekommst. Guck mal, Markus, da hast du auch die … “ STOPP! Ich habe die Badehose vergessen. Pech. Dann gehe ich eben abends nochmal, wenn es passt. Abends? Bin ich nochmal los. Diesmal hatte ich sie dabei. Blöd nur, dass um 20 Uhr das Sportbecken gesperrt ist, weil Trainingsbetrieb ist. Blöd nur, dass mir an der Kasse keiner gesagt hat, dass das so ist, weil ich mich nicht klar ausgedrückt habe. Blöd auch, dass ich umgezogen in der Schwimmhalle gestanden habe und es erst da erfahren habe. „Siehste, war ja klar, dass das so kommen muss. Du hast noch nie durchgehend etwas richtig hinbekommen. Und jetzt scheitert es daran, dich früh genug über die Beckenbelegung zu informieren.“ Das sind die Muster. Das ist das, was mich dann ins verderben reißt und mir beweisen will, dass ich eben so bin.

Wenn ich mich also permanent für einen Versager halte und das denke, dann mache ich meinem Unterbewusstsein die Tür immer sehr weit auf. Ich denke dann nicht nur, dass ich einer bin, ich mache mich zu einem. Und das Unterbewusstsein wird es mir immer wieder beweisen. Wenn ich permanent denke, dass ich etwas nicht kann, dann gebe ich meinem Kopf wieder ein Signal: „Finde Gründe dafür, warum du es wirklich nicht kannst und es auch nicht probieren solltest.“ Ich mache mich hilflos und klein. Auch mit dem „Ich versuche es …“ lasse ich Türen auf, um mich klein zu halten. Am Ende weiß ich doch nur, ob ich es kann oder nicht kann, wenn ich es probiert habe. Klappt es nicht, dann gewinnt eben mein Kopf. Nicht mehr. Klappt es, habe ich die Beweise dafür, dass es anders sein kann und ich mich gedanklich belogen habe. Nein, ich will damit nicht sagen, dass ich es „einfach mache“, aber ich nehme mir mittlerweile die Zeit für Tagträume.

Wenn du es dir vorstellen kannst, kannst du es auch schaffen.

Walt Disney

Walt Disney hat – für mich – sehr Recht. Ich träume. Wenn in mir der Wunsch aufkommt, etwas machen zu wollen, aber gleichzeitig auch das Gefühl, dass ich das ja eh nicht schaffen werde, weil … dann, genau dann ist es Zeit für einen Tagtraum. Mich in meinen Sessel setzen, die Augen kurz schließen und das, was ich ausprobieren möchte vor meinen Augen passieren lassen. Mich dabei sehen. Mich dabei einzuschätzen. Wahrzunehmen, wie ich mich dabei fühle, was alles passiert, wie es funktionieren kann und was ich dafür tun muss. Das klingt patetisch? Abgehoben? Vielleicht, ja. Im Grunde ist es nur eine Meditiationsübung. Eine Bilderreise mit mir selbst. In den meisten Fällen probiere ich die Sachen dann auch aus. Surfen zum Beispiel. Ich wollte immer mal surfen. Nein, schön sieht es nicht aus, wenn ich Moppelmensch mich in einen zu engen Neopren zwänge und dann auf ein Surfbrett steigen will. Gemacht habe ich es. Vielleicht ist es auch nicht ästhetisch, wenn ich laufen gehe, aber ich wollte es machen, ich konnte es mir vorstellen, also habe ich es probiert und nicht mehr aufgehört. Ich konnte mir immer vorstellen, dass ich Kraulschwimmen gut finde. Beim Schulschwimmen war ich nur nicht gut darin und irgendwie habe ich dann nur noch Brustschwimmen gemacht. In den letzten Wochen habe ich mir immer wieder vorgestellt, wie viel Kraft ich einspare, mich beim Kraulschwimmen gesehen, wie ich meine Bahnen ziehe, atme, Beinschlag. Ich kann heute Kraulschwimmen. Ich schwimme meine 500 m Sprintdistanz mittlerweile sogar unter 10 Minuten.

Ich konnte mir nicht vorstellen, vor anderen Menschen zu reden. Ich konnte mir nie vorstellen, meine Stimme zu mögen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, Vater zu werden. Vor allem konnte ich mir nie vorstellen, dass ich für mein Leben mal mehr Entspannung als Anspannung finde. Die Übungen haben mich ein ganzes Stück nach vorne gebracht. Selbst Entscheidungen für mich kann ich so lösen. „Du musst mal lernen nein zu sagen.“ Ja. Naja, ich muss es nicht müssen, aber ich brauche gesunde Grenzen, dafür brauche ich das nein. Aber irgendwie sage ich doch noch zu vielem ja. Bei vielem nehme ich mir die Auszeit, mir vorzustellen, was im schlimmsten Fall passieren kann, wie ich dabei fühle, wie das Nein sich für mich anfühlt. Wie es ist, wenn ich die Entscheidung für mich treffe, und nicht mehr um anderen zu gefallen oder gemocht zu werden. Es ist langer Prozess. Es ist ein immer wiederkehrender Versuch. Und es gibt die Phasen, in denen ich mich zurückfallen lasse, mich treiben lasse, in dem Sumpf meiner Gedanken versinke und mich haltlos fühle. Übersehen, ungeliebt, ungewollt, unfähig.

Wer schließt überhaupt auf?

Manchmal gebe ich anderen Menschen genau diese Macht. Die Macht über die Schlüssel für die Zellentüren. Ich lasse sie entscheiden, ob ich drinnen bleiben muss, oder ob ich Freigang habe. Ich gebe mich soweit hin, dass mich die Aussagen und Verhaltensweisen beeinflussen. Sie wissen gar nicht, dass sie diese Macht haben. Macht, meine Gedanken zu kontrollieren, die ich dann nicht mehr in den Griff bekomme. Gedanken, die zu Gefühlen werden und mich einsperren. Ich mache mich klein und übersehbar. Wer bin ich schon? Warum sollte ich das Recht haben, mein Leben jetzt anders zu leben? Warum sollte es jemals anders werden? Warum sollte ich jemals frei sein?

Ich habe meine Strafe abgesessen. In der JVA mit dreieinhalb Monaten Vollzug plus 3 Jahren Bewährung. Ich habe auch meine Strafe im Leben abgesessen. Eine Strafe, die ich mir selbst auferlegt habe, weil ich es nicht besser wusste, nicht anders gelernt habe und nie verstanden habe, dass ich gewollt bin. Ich habe den Schlüssel für meine Zellen. Ich bin der Wärter meines Lebens. Nur ich kann für mich richtig sorgen und auf mich aufpassen. Und ja, ich kann mir vorstellen, wie es ist, endlich in Freiheit zu leben. Ich muss mich nicht mehr einsperren.

Ich habe meinen Rucksack gepackt. Es ist mein Rucksack. Und ich bin losgegangen. Ich habe immer wieder neue Sachen ausprobiert, verworfen, Rucksack umgepackt, wieder probiert, bin zurück gegangen, wieder weiter. Und heute ist dieser Rucksack leichter. Ich habe die wichtigsten Hilfsmittel reingetan, die mir etwas bringen. Das heute? Ist nur ein weiterer Ausschnitt aus meinem Rucksack, um mich zu finden. Vielleicht habe ich es in ein paar Monaten schon wieder ausgepackt, weil ich es nicht mehr brauche. Deshalb bin ich aber auch noch lange kein Ratgeber. Ich werde niemandem sagen können, wie er seinen Weg findet. Genauso individuell wie wir Menschen sind, sind die Auslöser für Depressionen und psychische Erkrankungen. Genauso unterschiedlich wie wir alle und die Geschichte hinter dem Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Sachen, die helfen werden. Depressionen sind ein verdammtes Gefängnis, in dem wir sitzen (müssen). Ein Gefängnis ist aber keine Endstation. Es ist auch nichts, für das ich mich schämen muss.

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