Manchmal sitze ich hier zu Hause und habe eine Idee. Die brennt sich so in mir fest, dass ich sie nicht mehr loswerde. Sie beschäftigt mich. Fast täglich. Ohne, dass ich es groß merke, fange ich an zu planen, lote Möglichkeiten aus, spreche andere darauf an und dann kommt der Punkt, an dem es nicht mehr zurück geht. Ich bin gerne draußen. Ich brauche es, draußen zu sein. Genauso brauche ich es, auf dem Rennrad zu fahren. Ich bin nicht immer schnell, aber ich kann genießen. Ich mag kurze und lange Ausfahrten. Und manchmal brauche ich etwas, was mich bei mir bleiben lässt.
Pilgern wäre da eine Option. Ist sie aber auch doch irgendwie nicht. Als wenn ich mit irgendwelchen Sandalen auf dem brütend heißen und staubigen Jakobsweg von hier nach da gehen würde. Nein! Ja, das ist eine überzogene Darstellung. Aber wie stellst du dir denn das Pilgern vor?
Der Weg ist das Ziel. Wer pilgert, unternimmt eine Reise zu einem heiligen Ort. Der Pilger ist dafür mehrere Tage oder gar Wochen unterwegs, meistens zu Fuß. Auf seiner Wanderung möchte der Pilger den Alltag vergessen und sich oft auch auf seinen Glauben besinnen
Meine Vorstellung von Pilgern ist: Ich steige morgens mit meiner hautengen Radkleidung auf den schwarzen Renner, drücke stundenlang meinen zu schweren Körper auf einen Sattel, der nach kurzer Zeit ein leichtes Brennen zwischen den Beinen verursacht, wenn ich vergessen habe mich einzucremen. Die Hände in Handschuhe mit Polstern geschoben, die den Druck und die Schläge beim Fahren am Lenker etwas mindern sollen. Die spiegelnde Sonnenbrille im Gesicht, die Füße in Schuhen, die mit Cleats fest am Fahrrad eingeklickt sind. Stundenlang rotierende Bewegungen der Beine für den maximalen Vortrieb. Den Kopf tief, die Atmung gleichmäßig der Anstrengung angepasst. Schweiß, der nur kurz vom Bikecap unterm Helm aufgesaugt wird und dann an Schläfen runterläuft, auf den Rahmen tropft und manchmal den Weg in die Augen findet. Und dann sitze ich im Januar auf dem Rad und entscheide: Ich muss dieses Jahr nach Berlin. 300 km. Von der Haustür bis zum Brandenburger Tor. Ja, an einem Tag. Nein, ich weiß nicht, ob ich es kann. Nee, ich habe keine Ahnung, wie ich das trainieren soll. Ich weiß quasi gar nichts über so eine Langstrecke. Ich mach das einfach!
Natürlich nicht allein. Aber Corona hat mir eine große Gruppenfahrt – wie ich es bei der Fischbrötchensause mit den Radbengelz (und Freunden) hatte – nicht gegönnt. Das Datum war nicht verschiebbar. Es musste der 29.05., das Wochenende mit meinem 40. Geburtstag. Die Tour ist ein Geschenk von mir an mich selbst. Das geht an keinem anderen Tag. Also? Volles Risiko mit der Planung. Immer den Blick aufs Wetter. Immer die Hoffnung, dass ein bisschen Westwind mit reinspielt. 300 km bei Ostwind? Pfoah. Will ich mir gar nicht vorstellen. 13 Stunden im Dauerregen? Nicht vorstellbar. Ich lasse das Thema mit der meditativen Vorplanung mal aus. Sie hat immer mal Zeit gekostet und es war schön, mich darauf vorzubereiten. Am Ende habe ich zwei wichtige Menschen mit ins Boot geholt. Jens, von dem ich wusste, dass er die Strecke auch unbedingt mal fahren möchte. 200er hatte er, aber die 300 brennen genauso bei ihm. Wir könnten uns gegenseitig motivieren. Und Daniel, der Mann mit der Erfahrung. Der, der schon 600er Brevets gefahren ist, die Erfahrung mitbringt und auf dem Rad ein großer Ruhepol ist. Er behauptet was anderes, aber seine Ruhe ist nicht zu übersehen. Am Ende wird sich rausstellen, dass es genau die richtige Mischung war. (Eine große Gruppe ist toll, dennoch gibt es die Gefahr, dass das Tempo irgendwann zu hoch wird, ich mich mitreißen lasse und dann überpace, auch wenn die klare Regel ist, dass wir uns anpassen. Es klappt nicht immer so einfach.) Schön ist, dass wir überall Menschen kennen. So war im Vorfeld klar, dass wir in Wolfsburg bei 75km, in Meseberg nach 142 km einen Versorgungspunkt haben und in Berlin eine Unterkunft haben werden. Nur in Brandenburg beim dritten großen Stopp, gucken wir selbst. Großen Dank an Tobias, Tobias und Marcel. Das war grandios von euch!
Ich weiß nicht mehr so genau, wie viele Tage ich im voraus schon nervös war. Oder aufgeregt. Vielleicht auch Wochen. Auch gerne nervös und aufgeregt im Wechsel. Gerne auch mal zweifelnd. Sehr gerne sogar. Ist ja meine Paradedisziplin. Vor allem hat es die letzte 100er Trainingsrunde mit Wind nicht besser gemacht. Ob ich mir wirklich im Klaren darüber bin, wie weit 300 km sind? Nein. Bin ich nicht. Es hilft aber nichts. Ich möchte das machen. Ich möchte die Grenze verschieben. Und es muss genau an diesem Tag sein. Im Vorfeld habe ich mit Daniel und Jens viel besprochen, gelacht, Infos aufgesaugt und gefragt. Ich bin das alles fast täglich durchgegangen. Genauso wie die Packliste. Was soll mit? Was brauche ich wirklich? Was bekomme ich bei den Verpflegungspunkten? Was kaufe ich wo dazu? Ich habe keine verdammte Ahnung! Keine! Ich weiß nur, dass ich um 5.30 Uhr abfahrbereit an meiner Garage sein muss. (Es waren übrigens zwei Bananen, fünf gekochte Kartoffeln, Getränkepulver, drei Schokoriegel und alles, was ich für ne Panne brauche.) Wir sind fast pünktlich los. Und wir waren auch irgendwie gut gelaunt. Vielleicht auch noch müde, aber mehr gut gelaunt. Es sollte einfach rollen. Die ersten Kilometer bis Wolfsburg entspannt, locker und dauernd pinkelnd. Das schwerste dabei war ja, wirklich ernst zu bleiben und langsam zu fahren.
Die zweite Etappe lief anders. Wir haben den Schnitt erhöht, aber der Wind war auf unserer Seite. Es war nicht wirklich anstrengend, wir sind gut vorwärts gekommen – wenn da nicht wieder diese Pinkelpausen gewesen wären. Ich habe jetzt einfach solidarisch mitgemacht. Genauso wie ich solidarisch meine Jacke übergezogen habe, damit Jens nicht alleine so frierend aussieht. 8 Grad waren für mich mit kurzer Hose absolut ok. Bis kurz nach Wolfsburg fühlte es sich zwischendurch leicht stressig an. Alle sind wohl zum Shoppen aufgebrochen. Kaum ist die Maskenpflicht weg, stürzen die Leute wie Fliegen aufs Aas. Aber dann, als wir der alten innerdeutschen Grenze näher gekommen sind, wurde es auch auf den Straßen ruhiger. Und in den Orten. Guter Asphalt auf den Landstraßen, super ausgebaute Radwege an größeren Straßen und die gefühlte Attraktion, wenn wir in Richtung der Vorgärten geschaut haben. Bei Kilometer 142 der zweite große Stopp. Erstmal schick verfahren, weil das Navi was angezeigt hat, was es nicht gibt. Aber dann! Din-A4 Zettel an einem Zaun. Auf jedem ein Buchstabe. B O C K A U F B E R L I N. Hurra! Meseberg. Ein verschlafenes Nest im Nirgendwo. Aber mit Essen, Trinken und – tada – einer Toilette. Gefühlt hatte ich Lust auf nen Döner. 142 in den Beinen, nichts ist müde, ich will weiterrollen.
Die Benachrichtigungen auf meinem Handy sind explodiert. Eigentlich sollte nebenbei ein Livetrack laufen, aber Garmin wollte das nicht und hat zwei Sessions direkt nach dem Start beendet. Tja, dann eben einen Liveticker, wenn ich mal dazu kommen. Und irgendwie jeder musste zu jedem Update und zum Vorherigen noch etwas sagen. Wie der Teufel es will: „Stopp! PLATTEN“, bei ner schönen Abfahrt. Rechts raus, schnell den Schlauch tauschen. Mit einer Minipumpe ein paar bar auf den Kessel drücken und weiter. Irgendwann kommt bestimmt ne Tanke, damit ich wieder auf 7 bar komme. Die Maschine lief. Wir sind gerollt, haben gewechselt, gemeinsam gepinkelt und an der Tanke gehalten. Endlich EIS! Leute, wie geil schmeckt denn bitte ein Eis nach 181 km? Wir mussten weiter. Der Zeitplan hinkt schon. Dann noch zwei Stellen mit ner Vollsperrung und Schotter, den wir umfahren wollen. Aber endlich, endlich, endlich kam die Sonne raus. Die Highlights auf dem Weg? Kilometerlang auf dem Deich an der Elbe fahren. Die Fährüberfahrt in Schartau über die Elbe. Die morastigen Wälder mit guten Radwegen in Brandenburg. Nur nicht die verfluchten Mücken! MÜCKEN! Da stoppen wir kurz am Ortsschild und ich bekomme kein vernünftiges Bild hin, weil ich nur die stechenden Viecher vertreiben will. Egal! Die anderen beiden werden schon eins haben. In Brandenburg gab es übrigens auch das erste und einzige warme Essen während der Tour. Die beiden Currywurst / Pommes, ich Country Potatoes.
Irgendwo in einem Wald haben wir dann die 200 km Grenze erreicht. Als Belohnung? Foto vom Tacho machen, ein Selfie mit dickem Lachen, weil es jetzt noch geht und der Körper immer noch nicht meckert. Und natürlich: Pinkeln. Ich habe keine Ahnung mehr, ob wir vor oder nach Brandenburg die 200 voll hatten. Ist auch nicht wichtig. Ab Kilometer 210 ist sowieso alles egal und nur noch Genießerei, ab da bin ich dann meine weiteste Strecke gefahren. Daniel meinte, bei ca. 230 km könnte so ein Tiefpunkt kommen, bei dem dir die Lust vergeht. Jens hat hinterher gesagt, dass er es hatte. Ich nicht. Ich war voller Glücksgefühle. Angetrieben, vor der Dunkelheit anzukommen und die 300 zu schaffen. Es sollte nicht klappen. Die Vollsperrung war ein kleines Verhängnis. Memo an die Bauarbeiter: Wenn ihr den Radweg offen lasst und wir durch können, dann brüllt uns doch nicht an, dass wir da nicht durchsollen, weil das gefährlich ist, wenn uns einer der Betonträger auf den Kopf fällt. Ja, gut, das sehe ich ein. So ein Fahrradhelm wird einen Betonträger von der Brücke nicht abhalten, aber wir mussten da durch, sonst hätten wir wieder zurückfahren müssen. Das ging einfach nicht! Potsdam war zum Greifen nah. Noch ein kurzer Stopp am Heiliger See mit Sonnenuntergang und dann aber schnell über die Glienicker Brücke! Endlich das Ortsschild der Ortsschilder. Das non plus ultra. Das absolute Novum. BERLIN. Noch ein bisschen mehr als 20 km. Der Tacho zeigt 282 km. Und im Ernst, Berlin? Die Königsstraße so lang als Anstieg zu machen, einfach nur geradeaus, ohne Kurven? Puh. Ich musste etwas kürzer machen, aber die Beine waren noch gut. Wer hochfährt, der muss auch irgendwo wieder runter. Meistens. Hier zum Glück ja. Also Richtung Grunewald. Der ist ja stockfinster. STOCKFINSTER. Nicht mal die Fahrradbeleuchtung könnte ausleuchten, ob es hoch oder runter geht. Wir haben das nur am Schalten gemerkt. Trotzdem war es eine gut Fahrt. Nichts tut wirklich weh, außer den Handballen, die nach 12 1/2 Stunden auf dem Lenker nicht mehr wollen. Nur noch ein Mal kurz verdaddeln und schon geht es auf den Kaiserdamm. Ab jetzt nur noch geradaus den Berg runter. Einfach rollen. Gut, gefühlt war jede Ampel rot und es hat uns aus dem Tritt gebracht, aber .. tja .. nur noch 8 km. Die 300 km sind jetzt schon voll.
Ab der Siegessäule nur noch 1,8 km. Freihändig. Feiern. Genießen. Und am Ende? Stehen da 309 km auf dem Tacho. Dreihundertneunkilometer. Verrückt. Geil. Und verrückt. Wir wurden charmant von Marcel und Martin empfangen, ein paar Fotos gemacht und dann gings die letzten Kilometer zur Unterkunft. Ein großer Topf Nudeln, Oliven, alkoholfreies Bier und unsere vorgeschickte Kiste. Die lang ersehnte Dusche und das Nachtlager. Marcel, Ari? Danke. Für alles, was ihr da gemacht habt. Es ist nicht nur ein kleiner Anteil. Ihr habt zum Gelingen des Ganzen mit beigetragen. Unsere Nacht war kurz. Um 10 Uhr sollte der IC mit reservierten Plätzen und gebuchten Tickets schon wieder nach Hause gehen. Frühstück mit Brötchen, stille Post spielen, Rätselfragen und endlich Kaffee. :) Die 5 km zum Bahnhof war nochmal ein kurzes Sightseeing. Auch das hat sich noch unwirklich angefühlt, mit dem Rennrad durch Berlin zu fahren. Der Körper war ok. Es hat sich nicht angefühlt, als wäre ich am Tag vorher so eine Strecke gefahren. Nach 1 Std. 53 Min. endlich wieder in der Nähe der Heimat. Hallo Hannover! Danke nochmal an die Radmädels, die uns mit einem Empfang überrascht haben. Jule? Die Choreo will ich trotzdem noch sehen, die umgekehrte Wagenreihung hat uns nämlich auch irritiert. :)
Die schönste Überraschung kam aber nach der letzten S-Bahn-Fahrt vor meiner Garage. Mein Sohn und meine Frau habe uns mit Kaffee, Wasser und Keksen empfangen und mit Kreide vor die Garage geschrieben: „300 km Asel – Berlin. Herzlichen Glückwunsch!“ Noch ein bisschen quatschen und dann war das Abenteuer vorbei.
Ich sitze hier jetzt seit letztem Sonntag und versuche ein Fazit zu finden. Ich habe noch keins. Oder nicht die richtigen Worte für das, was mit mir passiert ist. Ja, es geht darum, Grenzen zu verschieben. Es geht um die eigenen Grenzen. Es geht um das Gefühl, mehr zu leisten und zu können, als ich selbst von mir glaube. Es geht um mentale Stärke, um Willen, um Durchhaltevermögen. Es geht um Ziele und die Verwirklichung. Es geht um Planung und Struktur. Es geht um Kompromisse und das Anpassen. Es geht vor allem ums Zurücknehmen. Sich selbst zurücknehmen und nicht in den Vordergrund drängen, weil wir eine Gruppe sind und alle ankommen möchten. Es geht um Meditation. Es geht um Natur, aushalten, erleben, genießen, fokussiert sein. Eben darum, nicht mit den Gedanken irgendwelche Konstrukte zu erschaffen, sondern bei dem zu sein, was wirklich ist. Es geht darum, in mich hineinzuhören. Es geht um Ausgeglichenheit und das zu finden, worauf es wirklich ankommt. Es geht wie so oft ums Machen, nicht ums Denken. Es hat eine Menge in mir bewegt. In viele Richtungen. Ich sortiere das noch. Ich weiß noch nicht, wie groß das war, was ich da geleistet habe. Das muss noch immer sacken. Es war der Hammer! Es ist nicht nur das Fahren. Es ist Freiheit und viel mehr.
(Und am nächsten Tag ging auch schon wieder ne kleine Gravelrunde mit Frau und Sohn zu nem Eis. Ein großes Eis. Und die 18 km waren vertretbar.) Danke, dass ihr zwei mir diesen Raum gegeben habt – wie so oft – und auch mitgefiebert habt. <3
Wir haben aus der ganzen Sache übrigens eine Spendenaktion gemacht. Mein Gedanke? 100 Leute finden, die für jeden erreichten Kilometer einen Cent spenden. Also 3 EUR pro Nase. Macht ein Ziel von 300 EUR. Dass ich das vor der Abfahrt schon auf das Doppelte hochsetzen kann, das konnte ja keiner ahnen. Der aktuelle Stand beim letzten Gucken waren genau 3.436,33 EUR und noch 3 Tage Restlaufzeit. Das ist genauso verrückt und groß. Danke an euch alle, die das unterstützt haben. Die uns unterstützt haben. Besonders die aus der Radgruppe, die dabei waren. Irgendwie. <3 Und ganz besonderer Dank an Daniel und Jens, die diese Reise mit mir gemacht und mich ausgehalten haben. Jungs, das war ohne Worte.
Unnütze Informationen? Kann ich auch. Während der Tour verbraucht:
– 5 Liter Wasser, 1 Liter Apfelschorle, 0,33 Liter Sprite
– 6 Bananen
– 3 Knoppers-Riegel, 2 Mars-Riegel
– 2 Scheiben Brot
– 1 Portion Country Potatoes
– 1 großes Waffeleis
– 5 gekochte Kartoffeln
– 4 Powerbar Gels
… und 9 Mal Wildpinkeln. :)