Trink doch endlich aus!

Ein Glas. Gefüllt mit Wasser. Das bekannte halb volle Glas. Oder ist es halb leer? Ansichtssache. Wie viele Philosophen und andere Menschen haben sich darüber schon gestritten und den Kopf zerbrochen? Wie oft war das Ergebnis: Entweder bist du ein Optimist, oder du bist ein Pessimist. Ich mag diese Kategorisierung nicht. Ich bin irgendwie beides. Viel mehr bin ich Realist. Ich sehe mein Glas mit Wasser und mir ist vollkommen egal, ob es halb voll oder halb leer ist. Das einzige, was ich wirklich sehe? Ich muss es trinken. Trinken, um zu leben. Ist das Glas leer, fülle ich es auf. Es ist ein Kreislauf, um zu überleben – egal, aus welcher Sicht ich auf meine Welt blicke. 

Gerührt und geschüttelt, bitte.

Mein Glas ist voll. Voll mit Wasser. Und manchmal sitze ich vor diesem Glas und stelle mir vor, es ist mein Leben. Ich gehe zum See, schwenke das Glas durch das trübe Nass und stelle es vor mich hin. Ich gucke zu, wie all die Schwebstoffe, Dreck und Keime durch das Wasser wirbeln. Da schwimmen sie, all die Sorgen, Probleme, Entscheidungen, Anfeindungen, Kritiken, Erinnerungen, Verletzungen und Hoffnungen. Ein paar kann ich sicher herausfischen und filtern. Ein paar kann ich einfach sein lassen und ein paar werden sich einfach nebenbei auf dem Boden absetzen. Das Glas muss nur lange genug stehen, dann wird es klarer. Klares Wasser. Wasser, durch das ich gucken kann. Die Sicht wird nicht mehr versperrt. Alles fühlt sich leichter an und ich bekomme Lust darauf, das Wasser zu trinken. Vorsichtig. Langsam. Bloß nicht wieder irgendwas aufwirbeln. Ich möchte das Leben aufnehmen. Ich möchte es spüren. Je vorsichtiger ich bin, desto mehr Leben kann ich mitnehmen. Ist es alle? Muss ich nachfüllen. Mit klarem Wasser natürlich. Langsam und vorsichtig. Und doch kann ich nicht verhindern, dass damit wieder die liegengebliebenen Sachen aufgewirbelt werden. Doch nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Ich werde nicht so lange warten müssen, bis sie sich wieder abgesetzt haben. 

Und manchmal? Vergesse ich dieses Glas. Ich lasse es stehen. Und ich lasse auch zu, dass da jemand einen Löffel reinsteckt und kräftig durchrührt. Alles wirbelt durcheinander. Es wieder eine trübe Suppe, durch die ich nicht klar sehen kann. Trinken kann ich das schon gar nicht. Das Leben weicht, ich muss warten und zugucken. Ich schweige. Ich versuche zu sehen, was alles aufgewirbelt ist, aber ich bekomme es nicht sortiert. 

Also warte ich. Solange, bis wieder alles auf dem Boden liegt. Und irgendwer wird es wieder aufwirbeln. 

„Es ist ihre Verantwortung!“

Wer sich freiwillig in eine Therapie begibt, auch wenn sie ein Jahr später beginnt, als sie eigentlich gebraucht wird, kommt mit dem richtigen Therapeuten auch schnell an den Punkt, dass dieses Jahr vielleicht gut war, du vielleicht viel gelernt hast, aber noch lange nicht alle Themen vom Tisch sind. Es ist nicht wichtig, wie oft ich schon mit Therapeuten gesprochen habe. Es ist nur noch wichtig, dass ich zulasse, das da jemand mit dem Löffel in meinem Glas rumrührt. Und das fängt schon mit den Anamnese-Fragebogen an. Ein Fragebogen. 15 Seiten. 15 Seiten mit Fragen, die alles durchleuchten. Kindheit, Entwicklung, Schule, Elternhaus, aktuelle Wohn- und Lebenssituation, aktuelle Probleme und Wünsche. 

Der einzige Unterschied? Ich gehe mit einer anderen Sichtweise da ran. Die Probleme? Sind noch immer da. 

„Ich hatte eigentlich das Gefühl, dass ich mit dem Elternthema durch bin. Für mich war da ein Haken dran. Gerade jetzt, wo es keinen Kontakt mehr gibt.“

[Lächeln.] [ernster Blick] 

„Glauben Sie wirklich, dass wir nicht mehr an das Thema müssen? Warum sitzen wir dann hier? Was ist dann Ihr Problem?“ 

[Schweigen]

„Sie haben hier geschrieben, dass Sie gerne abnehmen würden. Wäre danach irgendwas anders für Sie?“

„Ja. Ich fühle mich in meinem Körper gefangen. Und auch in der Situation, nicht einfach was Schönes kaufen zu können. Ich fühle mich nicht wohl. Ich komme mit mir so nicht zurecht. Manchmal hasse ich es sogar, dass ich den Körper schon so geschunden habe. Ich wäre dann einfach freier, leichter, lockerer.“

„Hmhm.“
[ernster Blick] „Warum machen Sie es dann nicht einfach?“ 

„Äh. Weil ich damit gerade nicht zurechtkomme. Es ist für mich eine Mammutaufgabe, meine Ernährung umzustellen, dabei konsequent zu bleiben, abends dem Hunger nicht zu verfallen und all die Probleme in mich reinzustopfen.“

„Ok. Sie haben hier die Frage nicht beantwortet, zu wie viel Prozent Sie verantwortlich für ihr Problem sind.“

„Richtig. Ich war mir erst nicht sicher. Es gibt theoretisch zwei Varianten. Entweder 70% andere, 30% ich oder 10% andere und 90% ich.“

„Ihnen ist klar, dass es nur eine Antwort geben kann?“

Hallo Verantwortung, du geile Sau! Die Frage war der Auslöser, das mal wieder zu sehen. Ich alleine habe die Verantwortung, wie ich mit dem Erlebten und den Verletzungen umgehe. Niemand anders. Es geht nicht um Schuld. Es geht nur um Verantwortung. Ich weiß, dass ich als Kind mit meinen wenigen Ressourcen fast keine Wahl hatte, anders zu handeln. Aber es ist meine Verantwortung, wie ich damit heute umgehe. 

Und wenn ich diese Verantwortung gerade nicht möchte? Es ist nicht einfach, für mich selbst die Verantwortung zu übernehmen. Nicht jetzt. Dieses durchgerührte Glas Wasser steht immer noch vor mir. Jede Woche wird es wahlweise neu geschüttelt oder durchgequirlt. Ja, ich will das so. Ich muss mal mit dem Kram klarkommen. Irgendwann. Doch ist wirklich alles meine Verantwortung? Jede Entscheidung, die ich treffe oder nicht treffe? Ist es auch meine Verantwortung, wie mit mir umgegangen wird? Wie konsequent kann ich meine Verantwortung durchsetzen, damit es gut bleibt? Was ist, wenn ich sie trage, mich abgrenze und andere sich dadurch verletzt fühlen? Was ist, wenn ich eine Zeit lang nicht reagieren kann, weil ich dieses durchgerührte Glas Wasser bin? Nicht still, nicht ruhig, nicht lebend. Sondern, durcheinander, in mir tobend, suchend. 

Aufgewühlt und regungslos.

Die Fragen aus dem Bogen beschäftigen mich. Auch, wie sich alles entwickelt. Vor allem aber, wie weit ich eigentlich wirklich bin. Was erwartet mich in der nächsten Zeit? Ich habe die nächsten Bögen bekommen und sie werfen noch mehr Fragen auf. Ich bin müde. Auf so vielen Ebenen. Ich bin in mir gefangen. In so vielen Momenten. 

Raus wollen, aber fast nicht können. Melden wollen, aber keine Worte haben. Freuen wollen, aber nicht lachen können. Essen wollen, aber keinen Hunger haben. Müde sein, aber nicht schlafen können. Bewegen wollen, aber festsitzen. Planen wollen, aber nicht umsetzen können.


Aufstehen wollen, aber nur sitzen können. Kümmern müssen, aber daran ersticken. Geliebt fühlen, aber jedes Gefühl betäuben. Mich mögen, aber mir aus dem Weg gehen. Loslassen wollen, aber daran festhalten müssen. Alles toll machen, aber nie wirklich genügen.


Mutig sein, aber alle kaputtzweifeln. Fragen stellen, aber keine Antwort finden. Gutes sehen, aber nicht zulassen können. Ruhe brauchen, aber in mir toben müssen. Sonne wollen, aber den Regen genießen. Träume haben, aber nie richtig ausleben.


Schreien wollen und doch verstummen. Nähe suchen, aber nicht annehmen können. Kraftvoll sein wollen, aber nur schwach sein können. Reparieren wollen, aber doch wieder an mir zerbrechen.Leben wollen, aber nicht zurechtfinden.

Herr Bock / @verbockt 

Das Glas ist voll. Es ist Leben drin. Es ist nicht halb voll oder halb leer. Es ist voll. Es ist nur alles aufgewirbelt, was ich in einem fein säuberlich habe auf den Boden sinken und ruhen lassen habe. All das ist ist jetzt um mich herum. Jeden Tag. Jeden Moment. Andauernd. Die größte Aufgabe ist das Sortieren. Was anderes bleibt nicht über. Die Intervalle des Umrührens sind so kurz, dass es gar nicht mehr auf den Boden sinken kann. 

All das macht es mir eben auch gerade schwer, das Leben zu genießen. Oder das Leben wahrzunehmen. Oder zu antworten. Oder mir zu merken. Oder all die anderen Dinge. Eben weil ich dieses aufgewühlte Glas Wasser mit seinem Dreck nicht trinken kann. Und auch nicht will. Ich hoffe, wir finden jetzt die richtigen Filter für das Wasser, damit am Ende nur noch das Leben übrig bleibt. Mein Leben mit der Verantwortung, wie ich mit meinen Erlebnissen umgehen werde. 

Prost. 

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4 Kommentare

  1. Lieber Markus,

    du findest mal wieder bewegende Worte und diese kontroverse Auseinandersetzung finde ich sehr treffend. Auch bei mir steht eventuell noch mal ein „Neuanfang“ hinsichtlich einer Therapie an, aber: will ich das, kann ich das, muss ich das, schaffe ich das?

    Ich hoffe sehr, du findest deinen Weg und kannst diesen (irgendwann) gut gehen – mit und aus eigener Verantwortung heraus.

    Liebe Grüße
    Tine

  2. Ich stehe auch kurz vor einer stationären Therapie. Lange hab ich dran rumgemacht. Immer wieder war das Glas halbvoll, und dann wieder leer bis auf Schlick, Schlamm und Alpträumen.
    Manchmal würde ich gerne eingepackt in Daunendecke durchs Leben spazieren. Kein Schmerz. Keine Ablehnung.Keine Kontoversen. Keine Kompromisse.
    Aber die Daunendecke geht leider nicht übers Gehirn. Die Erkenntnisse prasseln immer wieder. Und das tut so weh und macht mich unheimlich traurig. Ich denke , wenn mein “Filter“ mal funzt….auch dann bleibt die Traurigkeit. Aber ich glaube fest daran, das uns das menschlicher, wahrer und natürlicher macht.

    Aber ganz sicher bin ich mir da natürlich auch nicht….

    Gute Tage und frohe Stunden für Dich !

  3. Bin gestern auf deiner Lesung im Krankenhaus Wunstorf gewesen.
    Und sehr beeindruckt von deinem Vortrag.
    Dich hat es ja schwer erwischt!
    Bin froh, daß es bei mir nur einen milderen Verlauf gab.
    Bin jetzt schon seit fast zwei Jahren EU-Rentner.
    Gerade mal 59 Jahre alt ☺️

    1. Hallo Matthias,
      schön, dass du da warst. Danke für deine Rückmeldung. Was ist schon schwer? Das empfindet jeder anders. Ich habe einfach Aufgaben bekommen, die andere nicht haben. Das kann schwer sein, aber ich kann gewinnen. :)

      Grüße!

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