Blicke aus der Einbahnstraße

Stell dir vor, du bist jung. Du bist Teenager. Du willst da rausgehen und dein Leben auf die Überholspur bringen. Du willst alles erleben, Spaß haben, Menschen treffen, etwas arbeiten, ne Ausbildung machen, studieren, feiern gehen, Sport treiben, alles im Griff haben. Du versuchst dein Auto auf die Autobahn zu bringen, du blinkst links, fädelst dich ein und hängst hinter einem LKW fest. Du blinkst wieder, weil du eine Lücke siehst. Du willst dich einfädeln, aber schaffst es nicht, rechtzeitig auf die mittlere Spur zu kommen. Du machst den Blinker aus. Du wartest. Der LKW bremst dich aus. Regen setzt ein. Die Sicht wird schlechter. Du blinkst vorsorglich. Du blinkst auch in der Hoffnung, dass dir jemand mit Lichthupe das Zeichen zum ausscheren gibt. Es passiert nichts. Auto für Auto zieht an dir vorbei. Du resignierst. Du nimmst die nächste Ausfahrt, drehst noch eine Runde ziellos durchs Land und parkst dein Auto in er Einbahnstraße. In deiner Einbahnstraße, in der du seit langer Zeit wohnst. Eigentlich wolltest du auf die Überholspur. Eigentlich wolltest du richtig Gas geben. Und dann stehst du parkend in deiner Straße mit Blick in die Dunkelheit. Du steigst aus, schließt ab und gehst nach Hause. Du sitzt still auf deinem Sofa, starrst an die Wand und die Gedanken über das Versagen bestimmen dich. Es ist deine Einbahnstraße.

Du stehst auf. Du vergisst, was du eigentlich alles machen willst. Du willst gerade nur noch auf die Überholspur. Du ziehst dich an, gehst raus, steigst ein und fährst los. Auf die Autobahn. Du vergisst den Blinker. Du ziehst einfach raus. Mit Gewalt muss es doch funktionieren. Immerhin bist du jetzt auf der mittleren Spur. Ein Lächeln streift dein Gesicht. Du drückst das Gaspedal durch, es ist alles frei. Und dann … zieht der LKW raus. Er blockiert dich. Das Lächeln verschwindet. Du nimmst den Fuß vom Gas, steigst mit dem anderen auf die Bremse. Du lässt dich zurückfallen und fädelst wieder rechts ein, um die Autobahn zu verlassen. Ein neuer Tag. Ein neuer Versuch. Und du biegst ab, zurück in deine Einbahnstraße. Du parkst. Mittlerweile weißt du nicht mehr, wie viele Tage vergangen sind, an dem du versucht hast, weiterzukommen.

Du entscheidest nach all der Zeit, dass es besser ist, nachts loszufahren. Nachts ist nicht mehr so viel los auf den Straßen. Die Menschen schlafen. Du hast deinen Rhythmus verloren. Du musst morgens nichts mehr aufstehen, auch wenn du es tust, weil du darüber nachdenken musst, warum all deine Versuche scheitern. Tag für Tag durchdenkst du, wie du es machst, wie du es anders machen könntest, um es dann doch wieder nicht zu schaffen. Nachts. In der Stadt. Kleine Straßen, noch mehr Einbahnstraßen und das Gefühl von Einsamkeit. Gute Einsamkeit, weil du dich nicht mehr mit all den Menschen beschäftigen musst, die dir auf der Autobahn begegnen. Schlechte Einsamkeit, weil du mit dir allein bist.

Es ist Zeit, eine Beifahrer mitzunehmen. Jemanden, der dir hilft, deinen Weg zu finden. Ihr fahrt zusammen, er kennt den Weg. Jede Tour ist eine Erlösung. Manche sind noch schwerer, weil es Kreuzungen zu Orten gibt, an die du nicht mehr fahren möchtest. Du kannst entscheiden, ob du abbiegen möchtest. Du entscheidest, dass es noch kein guter Zeitpunkt ist, auch wenn der Ort dich magisch anzieht. Eines ändert sich dennoch noch nichts. Jeden Abend parkst du in deiner Straße. In deiner Einbahnstraße, die dir so wohlig vertraut vorkommt.

Fahrlehrer durch die Dunkelheit

Deine Beifahrer haben dich verlassen. Immer wieder. Du hast entschieden, dass du noch nicht bereit für gemeinsame Fahrten bist. Es hat dich frustriert, dass du trotzdem den Weg nicht auf die Autobahn findest. Ein letzter Versuch. Du startest, fährst über die Auffahrt, ziehst rüber, wirst angehupt, gibst Gas, ziehst nach links und drückst voll drauf. Es klappt. Die Autobahn ist frei. Deine Fahrt fühlt sich wie ein Flug an. Bäume ziehen an dir vorbei, nichts blockiert dich. Du fährst durch die Nacht. Helle, rote Rücklichter fliegen an dir vorbei. Und dann … blinkt die Tankanzeige auf. Du musst die Autobahn verlassen. Das wars. Zurück in die Einbahnstraße. Zurück in dein Zuhause.

Jahre vergehen. Immer wieder hast du die Fahrten am Tag probiert. Und in der Nacht. Es ist an der Zeit, dir einen Fahrlehrer zu nehmen. Du gibst dich für Wochen in eine Fahrschule, die dir zeigen soll, wie das jetzt alles richtig funktioniert. Du lernst zuerst: Kein falscher Ehrgeiz. Keine Überholspur. Fahr langsam und sinnig, dann erreichst du auch dein Ziel. Keine Überholspur! Aber diese Überholspur war über Jahre dein Ziel, dein Traum, dein Denken, dein Wunsch. Damit ist jetzt Schluss. Dein Fahrlehrer ist nicht permanent greifbar. Du lernst für dich selbst. Oft in einer Gruppe, meistens durch andere Sachen. Die Euphorie der Veränderung wird immer wieder unterbrochen. Du steigst in dein Auto, unternimmst einen neuen Versuch. Du blinkst wieder. Du hast Geduld. Du ziehst nach links in die Lücke und lässt dich ein Stück mit dem Verkehr treiben. Doch da sind noch die Zweifel. Wieso sollte es diesmal funktionieren? Du treibst weiter, die Tankanzeige blinkt, du wirst müde, du gibst auf und fährst raus. Raus in die Einbahnstraße. Dein Zuhause. Der Weg in die Dunkelheit. Alles wiederholt sich. Alles ist immer irgendwie gleich. Du begegnest anderen Menschen, du gibst Gas und vergisst zu tanken, du scheiterst. Menschen glauben an dich, auch wenn du vergessen hast, was in der Fahrschule war.

Du bist so oft gescheitert. So oft. Vielleicht lohnt es sich doch, an einer Kreuzung mal stehenzubleiben, den Blinker zu setzen, abzubiegen und an Orte zu fahren, die du nicht mehr sehen wolltest. Vielleicht sind es die Orte, die dich weiterbringen. Vielleicht sind es die Orte, an denen du erfährst, wie weit du wirklich fahren kannst. Vielleicht sind es die Orte, an dem all das liegt, was du brauchst, damit du immer öfter eine Fahrt in die Welt machen kannst. Vielleicht treiben die Orte dich an, immer mehr auf dich zu vertrauen. Nicht immer ist es deine Entscheidung, in die Einbahnstraße zu fahren. Aber vielleicht ist die Entscheidung, nicht mehr dorthin zu fahren, der erste Schritt für deine neuen Wege. Vielleicht kannst du so selbst neue Wege auf deine Landkarte zeichnen. Vielleicht steigst du irgendwann in dein Auto, startest den Motor, lächelst und fährst entpannt die Mittelspur auf der Autobahn, hast nicht das Gefühl von einem LKW blockiert zu sein und glaubst selbst daran, an dein Ziel zu kommen, anstatt abbiegen zu müssen. Du musst dich zwar dem Verkehr anpassen, aber du darfst anders sein. Wege sind vorgegeben, aber es gibt immer wieder neue zu entdecken. Achte auf deinen Tank, achte auf genug Treibstoff. Und wenn du mal in die Werkstatt musst? Ist das nicht schlimm.

Fahr vorsichtig und pass auf dich auf! Manche komme nicht mehr an. Nicht mal in der Einbahnstraße. Ich hoffe, dass du den Weg trotzdem immer wieder in dein Zuhause findest. Nicht jeder Weg ist ein Einbahnstraße.

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3 Kommentare

  1. Lieber Markus, eine klar und deutliche Beschreibung meines Lebens mit der Depression. Besser hätte ich es nicht beschreiben können. Ich bin die sehr dankbar für deine Worte. Ja, wir dürfen anders sein und ja am Wegesrand ist es auch toll. Ich möchte nicht mehr auf die Überholspur, da ist es mir zu hektisch. Ich fahre in Ruhe dahin, egal wie lange es Dauert. Der Weg ist das Ziel. Liebe Grüße und eine Umarmung aus Dresden, Heike

  2. Wundervoll!

    Gerade der Punkt mit der Werkstatt – meine Erklärung für Patienten damals in der Psychiatrie, als sie sich unwohl fühlten, in Behandlung zu sein. Als Laie kann man sein Auto warten – tanken, Wischwasser und Öl auffüllen, Pflege. Aber wenn der Motor einen Schaden hat, benötigt man dann doch mal einen Fachmann. :)

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