Die Denkfabriken

Wieso eigentlich Mehrzahl? Ich habe ja nur einen Kopf. Ein Gehirn. Eine Zentrale, in der alle Synapsen geschaltet sind und in einigen Bereichen nicht richtig verdrahtet sind. Oder waren. Ein Kopf, in dem alle Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen, Träume, Enttäuschungen und guten Momente fein säuberlich in Kisten einsortiert werden. Eine einzige Fabrik, in der alle morgens ins Tor laufen und ihre Arbeit verrichten. Einstempeln, mies gelaunt an die Arbeit gehen und tja, wie sage ich es jetzt? Ach, ja: „Sie haben die Kisten ausgepackt und immer wieder die negativen, unbearbeiteten Sachen ausgepackt.“ Haben. Also hatten. Vergangenheit. In den letzten Monaten habe ich viel versucht und es hat sich gelohnt. Ich habe eine Stabilität geschaffen, die ich im Moment genießen kann. Vor allem auch, weil es nicht nur eine Denkfabrik ist, die ich jeden Tag steuern kann. Ja, richtig. Ich kann die Steuern. Ich bin der Chef. Ich habe das Sagen. Ich bestimme die Richtung. Ich gehe den Weg. Ich gebe es vor. Niemand anders.

Bitte? Auslöser? Ja. Natürlich. Es gibt im Tagesablauf immer wieder Momente, da komme ich in Situationen, die mich zurückwerfen können. Die mich an etwas erinnern. Die mit einem Geruch, einem Verhalten, einer Aussage, einer Reaktion etwas aus meiner Kindheit auf den Tisch werfen. Auslöser eben. Situationen, die nicht einfach zu handhaben sind. Fluchtgedanken entstehen, kleine Ängste kommen auf oder die Starre, nichts mehr tun zu können. Alles wieder auszusitzen, zu ertragen und bis zum Ende zu durchdenken, um mich nieder zu machen. Ein einziger Auslöser kann einen kompletten Tag ins Wanken bringen. Nicht nur den Tag. Wenn die Gedankenmaschine erst richtig läuft, kann daraus ne Woche werden. Dann ist es eine Situation, in der ich sogar vergesse, was überhaupt der eigentlich Auslöser war, weil ich mir nach und nach neue Themen suche, die ich nochmal durchdenken möchte. Es ist, als wenn ich vom Rand im Freibad in ein Becken voller überflüssigem Geschwätz des Kopfes springen muss. Und das fängt in solchen Phasen dann schon morgens beim Aufstehen an.

Doch was ist, wenn es wirklich zwei Fabriken in meinem Kopf gibt, bei denen ich der Chef bin und den Vorarbeitern sagen kann, wer heute zur Arbeit kommen muss? Was ist, wenn ich lernen kann zu entscheiden, wem ich mehr Arbeit gebe?

Was wäre, wenn ich mich selbst immer dahingedacht habe, wo ich war? Was wäre denn, wenn alles so gekommen ist, weil ich mir das erdacht habe? Vielleicht nicht genau so, aber die Gedanken in eine falsche Richtung gelenkt habe, damit es überhaupt nicht gut werden kann? Was ist, wenn ich mir gar keine Chance gegeben habe? Oder geben wollte? Weil ich das so gelernt und verstanden habe. Und was wäre, wenn ich mich auch genauso da rausdenken kann? Kann das funktionieren? Mit den beiden Fabriken?

Alle verteufeln das Denken in schwarz und weiß. Ich muss bunt sehen. Ich glaube, das ist manchmal nicht hilfreich. Ich glaube, dass die beiden Fabriken im Kopf genau das machen. Sie unterteilen. In gut und schlecht. In positiv und negativ. In sympathisch und unsympathisch. In Liebe und Gleichgültigkeit. Ich glaube, es gibt keinen neutralen Boden im Kopf. Es gibt diese zwei Seiten. Diese beiden Fabriken.

Fabriken in denen Tausende von Arbeiter nur darauf warten, endlich anfangen zu können. Tausende auf der einen Seite. Tausende auf der anderen Seite. Beide geführt von einem Vorarbeiter, der auf Anweisungen von mir wartet, die ich ihm instinktiv gebe, denn ich kommuniziere mit mir ja am meisten. Und vor allem sehr laut. In meinen Gedanken. Sie Warten. Vorarbeiter Positiv. Vorarbeiter Negativ.

Entweder die eine Richtung …

Ein Morgen, der nicht schlechter sein könnte. Ich wache auf und fühle mich nicht gut. Ich habe das Gefühl, total kaputt zu sein. Müde. Ich muss wohl schlecht geschlafen haben. Ich trotte in die Küche, mache mit halboffenen Augen nen Kaffee, schleiche ins Badezimmer und habe keinen Bock zu duschen. Ich trödel rum, dusche und weiß, das wird heute nichts. Genau das kommt bei einem der Vorarbeiter an. Der Vorarbeiter der negativen Fabrik.

„Hey Leute, an die Arbeit! Schnell! Der Chef hat einen schlechten Tag.“
Tausende von Arbeiter machen sich ans Werk. Ihre einzige Aufgabe ist es, diese Gedanken zu rechtfertigen und zu beweisen. Sie produzieren Gedanken, damit dieser Tag keine Chance bekommen kann.

„Ich hasse den Wecker. Der klingelt eh zu früh.“
„Ich habe keine Lust rauszugehen. Der Weg zur Arbeit ist mir zu anstrengend.“
„Der Verkehr nervt sowieso.“
„Mich kotzt es an, dass die Kollegen so viel lachen und glücklich sind.“
„Ich denke eh nur daran, wann Feierabend.“
„Der Job macht keinen Spaß, ich kann aber nichts Besseres.“
„Ich brauche ein neues Fahrrad.“
„Ich kann mir eh kein neues Fahrrad leisten.“

… und so weiter, und so weiter, und so weiter. Den ganzen verdammten Tag lang arbeitet es in meinem Kopf, alles beschissen zu finden und das Schlechte daran zu sehen. Der Tag läuft nicht rund. Ich falle zurück. Ich stolpere über mich selbst. Und ich stolpere über meine Gedanken, die ich beim Aufstehen schon gedacht habe.

… oder die andere Richtung.

Ich wache morgens auf. Mit dem Wecker, den ich mir zu meiner passenden Zeit gestellt habe. Ich fühle mich nicht unbedingt gut, aber versuche anders zu denken: „Heute bekommt der Tag die Chance, ein guter Tag zu werden. Vielleicht läuft nicht alles rund, aber ich werde sicher etwas Gutes erleben.“ Der andere Vorarbeiter hört das. Und es geht los.

„Hey, Leute! Habt ihr das mitbekommen? Der Chef versucht einen guten Tag zu haben!“
Tausende von Arbeiter stürzen sich an ihre Arbeit und produzieren Gedanken. Viele Gedanken. Es ist noch immer derselbe Kopf, aber mit einem anderen Ergebnis.

„Ich freue mich auf die Arbeit. Es ist kein Traumjob, aber hey, ich habe einen Job!“
„Ich bin dankbar, dass ich mit dem Rad fahren kann. Es ist nicht das Beste, aber es fährt.“
„Und ja, am Ende des Monats kommt mein Gehalt aufs Konto!“
„Selbst wenn ich kein Rad hätte, kann ich zum Bus gehen. Ich kann gehen!“
„Es ist toll, dass die Kollegen mich einbinden wollen.“
„Nicht jeder Kunde ist einfach, aber löse Probleme.“

… und so weiter, und so weiter, und so weiter. Den ganzen verdammten Tag. Den ganzen Tag nerven mich also beschissen gute Gedanken, weil die richtige Fabrik ihre Arbeit aufgenommen hat und ich bestimme, meine Sichtweise auf das zu ändern, was mich jeden Tag hier umgibt. Das macht nur eines klarer:

Die Dinge sind so, weil ich denke, dass sie so sind. Nicht, weil sie wirklich so sind. Die Art, wie ich darüber denke, beeinflusst mich also am Ende mehr, als es die Realität zeigen würde.

Das klingt selbst in meinen Ohren seltsam und abgehoben. Doch es ist genau das, was mir immer wieder begegnet. Immer wieder. Auch wenn ich das nicht wahrhaben will. Wie oft habe ich meinem Leben gesagt: „Wäre das in meinem Leben nicht passiert, wäre ich heute nicht so.“ Oder: „Hätte ich das im Leben bekommen, wäre ich doch viel anders.“ Letztlich ist das auch nur wieder eine Schuldzuweisung und das Wegdrücken von Verantwortung für mein Empfinden. Wegschieben der Verantwortung, dass es mir gut gehen darf. Ich weiß doch selbst gut genug, dass es nicht so einfach ist, wie es klingt. Und nein, mit einem: „Du musst es nur wirklich wollen“, geht es nicht. In den schweren Phasen gibt es keinen richtigen Zugang zu den guten Gedanken, zu besseren Gefühlen, zu einem Blick nach vorn. Da hängt dann ein bleierner Vorhang im Weg, der alles blockiert. Ja, natürlich habe ich das NICHT alles von heute auf morgen gelernt. Nein, nur weil ich etwas weiß, kann ich das noch lange nicht anwenden. Und nein, das klappt auch nicht jeden Tag gleich gut. Aber ich kann es versuchen. Ich kann mir diese Chance geben. Ich übe das jeden Tag. Jeden. Einzelnen. Tag.

Dankbarkeit

Da ist noch was. Noch was, was ich jeden Tag versuche einzubauen und dabei merke, dass es mir eine andere Einstellung zum Leben gibt. Dankbarkeit. Dankbar zu sein für all die kleinen Dinge, die mich umgeben. Die wirklich kleinen. Die, die ich sonst so gerne übersehe. Und ich sage sie mir.

Ich bin dankbar, dass ich aufstehen darf. Dankbar für einen Körper, der all die sportlichen Sachen mitmacht, auch wenn ich ihn nicht immer gut behandelt habe. Ich bin dankbar, dass ich mit dem Rad fahren kann, einen kurzen Weg habe. Dankbar für einen neuen Job, eine Chance, tollen Kollegen und all dem, was ich jetzt erleben darf. Ich bin dankbar für die Menschen, die mich stets begleiten, unterstützen, motivieren, zurechtrücken und konstruktive Kritik haben. Und so weiter. Es ist nicht immer das große Ganze, für das ich dankbar bin. Es sind die kleinen Dinge.

Ich bin nicht mehr bereit, Energie dafür zu verschwenden, mich meinem eigenen Gemecker, Gejammer und den Gedankenspiralen hinzugeben. Ich bin nicht mehr bereit, all das Negative sehen zu müssen, was irgendwann vor mir lag. Ich bin nicht mehr bereit, mir selbst einen Haken zu stellen, mich kraftlos am Boden zu wälzen und nicht aufstehen zu können. Ich bin nicht mehr bereit, einer schweren depressiven Episode die Tür aufzumachen. Ich bin nicht mehr bereit, mir selbst im Weg zu stehen. Und ich bin schon lange nicht mehr bereit, an mir selbst zu scheitern.

Aber ich bin bereit, jeden Tag etwas zu probieren, um mehr Leben in mein Leben zu lassen, ohne dass der eine Vorarbeiter mit seinen Arbeitern negative Gedanken produziert. Ich werde ihm nicht kündigen können. Es wird keinen Lost Place geben. Ich versuche alles, damit die Arbeiter in Kurzarbeit gehen müssen.

Auch interessant ...

4 Kommentare

  1. Wow,was für eine gute Sichtweise,wie du dafür die richtigen Worte und Bilder findest Ich bin immer wieder fasziniert,wie mich deine Gedanken ansprechen. Danke,es tut mir gut,es hilft mir sehr!

  2. Großartige Gedankengänge.
    Wenn das Schöne wieder wahrgenommen wird,
    strahlt das Herz, die Seele, die Augen und
    die Dankbarkeit verströmt sich.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert