Lasst uns reden … // #bch16

Samstag, 5 Uhr 20 klingelt der Wecker penetrant. Wer steht eigentlich an einem Samstag so früh auf, wenn er nicht arbeiten muss? Ich. Es ist Barcamp in Hannover in der Buhmann Schule. Immer noch eine verrückte Idee, bei so einer Veranstaltung über „das Thema“ zu reden. Samstag also, mit keinem guten Gefühl. Ein Samstag mit all den wunderbaren Kritiken, die mein Kopf so vorbringen kann. „Du musst dich nicht schlecht fühlen, ich war bei meiner allerersten Session auch nervös.“ Ich bin nicht nervös! Ich bin nicht mal angespannt! Ich denke. Mein Kopf denkt für mich. Er denkt und sagt mir, wie beschissen alles ist. Naja, immerhin stellt er genau die Fragen, die ich nicht gebrauchen kann.

„Bist du sicher, dass du die blaue Hose anziehen willst? Und dann noch die kurze?“
„Sag mal, meinst du wirklich, dass es das Hemd sein muss? Hatte das nicht schon Schweißflecken?
„Du kannst ruhig deine Sneaker anziehen!“
„Ehrlich, deine Haare gehen heute so nicht!“
„Hast du alles eingepackt, oder mal wieder was vergessen?“
„Willst du das wirklich machen?“
„Was ist, wenn dich keiner hören will?“
„Meinste, die interessiert das bei nem Barcamp über IT und Social Media?“

Ein kleiner Auszug aus den Fragen und Gedanken die mich nicht nur heute morgen, sondern auch die letzten Tage begleitet haben. Nein, es macht nach wie vor keinen Spaß, diese Gedanken wieder richtig zu rücken. Nein, ich habe auch keinen Spaß daran, dann „einfach mal was zu machen“. Aber ich habs gemacht. Es war wichtig. Denn: Wenn du etwas zu sagen hast, dann geh da raus und rede drüber. Es geht jeden etwas an!

Der Tag war gut. Unerwartet gut. Und doch hab ich „mal wieder etwas verbockt“. Kann ich ja, sagt mein Kopf. Konnte ich schon immer, sagt mein Kopf. Dass ich es immer schon konnte, kann er mir auch immer mit mehreren Beispielen beweisen. Ein Lapalie, die mich dennoch ärgern wird. Session mitfilmen, Ton auf stumm. DER TON AUF STUMM! Ich nehme mich 50 Minuten auf und habe keinen Ton! DAS muss mir erstmal einer nachmachen. „Siehste, verbockt. Wie immer. So kann da ja auch nichts draus werden.“ Der Kreislauf läuft.

CheckIn? Erfolgreich!

Aber zurück zum Anfang. Aufstehen, Kaffee, Dusche, anziehen, los. Gott sei Dank hatte ich ja in der SBahn auch nochmal 30 Minuten Zeit, darüber nachzudenken, was denn wäre. Kann ich ja. Gut sogar. Ankommen, aufs Rad, zur Buhmannschule. Wie immer vor der Zeit. Viel zu früh. Und nochmal Zeit. Wieder durchdenken. Wieder die Fragen. Wieder die Kritiken. Und am Ende? Unsicherheit! Ist das wirklich das, was du jetzt machen willst? JA! Verdammt, ja! Also rein, zum CheckIn, Pass und Plan abholen, erstmal Kaffee. Und schon das erste Gespräch. „Ach, du bist das? Cool. Ich kenne das und hatte das auch die …“ Puh. Schon mal einer, der es sich anhören wird. Vielleicht. Kein Brötchen. Geht eh gerade nicht runter. Um 10 Uhr irgendwas dann die Welcome Session. Wieso habe ich eigentlich überlesen, dass sich jeder Anwesende vorstellt?! OH MEIN GOTT! Nach gefühlten 271 Menschen dann ich. „Hallo, ich bin Markus. Meine 3 Hashtags für heute sind: #Drüberreder, #Leinerocker und #IchMussMalDringendPipi.“ Mikro weitergeben, geschafft. Immerhin kann ich lässig rumstehen und gut aussehen. „Jetzt kommen alle nach vorne, die eine Session vorbereitet haben oder eine halten wollen.“ Wieso bin ich denn jetzt gerade so schnell losgegangen und habe dann auch noch als Dritter gesagt, was ich machen will? Bekloppt? Kann ich also noch. „Mein Sessionvorschlag ist: Suizid – Das Leben ist zu kurz, um gleich ins Gras zu beißen. Jemand Interesse?“ 1, 3, 5, 6 Hände. Ja, das ist ok. Kann ich mit leben. Immerhin Interesse. Also muss ich wirklich ran. Kein Weg mehr zurück. Außer ich breche mir jetzt das Bein. Oder die Welt geht unter. „Du verkackst es doch eh.“ Richtig. Machen wir so.

Nochmal ne Stunde Zeit, bis ich dran bin. Alles nochmal im Kopf durchgehen. Nochmal alles denken, querdenken, verdenken, zerdenken – bis auch wirklich klar ist, dass ich es nicht so hinbekomme, wie ich es mir vorstelle. Hoch zum Raum. Warten. Noch mehr warten. Und dann rein. Laptop aufstellen, Kamera anschließen, ausrichten, warten, gucken. WO KOMMT IHR DENN BITTE ALLE HER?! Warum sind wir denn jetzt 17? Unruhe. Nein, nicht nervös. Aber ich war nicht darauf vorbereitet. Mein Kopf schon. „Haha, siehste, noch mehr Eventualitäten, die dir schön ne Abfuhr erteilen können. Jetzt wäre ich sehr vorsichtig, was und wie ich es erzähle!“

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Ich habe erzählt. Über das Gefühl einer Depression. Was nicht geht. Und was geht, zumindest im Kopf. Und warum der Suizid für viele oft eine Lösung ist, die vermeintlich letzte. Es ging um mich. Und um euch! Und allen, die darunter leiden. Und denen, die Angehörige sind. Es ging um Fragen und Antworten. Und ich freue mich sogar, dass ihr Fragen gestellt habt. Als Menschen, die nicht betroffen sind. Und ich freue mich, wenn ich den ein oder anderen („Siehste, wieder deine Zweifel! Hab ich dir doch gesagt! Glücklich haben die nicht ausgesehen, oder? Oder interessiert? Alle haste bestimmt nicht erreicht!“) die Krankheit und Denkweise etwas näher bringen konnte. Ihr müsst und sollt es nicht verstehen, aber etwas empathischer damit umgehen. Es war eine Erleichterung, den Mut für so ein Gespräch aufzubringen. In einem Rahmen, wo ich dieses Thema persönlich nicht vermutet hätte.

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Es war anstrengend. Es war für mich befreiend, mit einer alten Angst aufzuräumen, mir und meinem Kopf zu zeigen, dass ich immer weiter aus diesem Sumpf komme. Warum ich euch davon erzählt habe? Nicht wegen dem Ruhm. Nicht wegen dem Rampenlicht. Wir müssen einfach offener über solche Themen reden. Es kann jeden treffen! Oder hat es vielleicht schon jemanden getroffen und ihr habt es noch nicht gemerkt?

Danke für die tollen, offenen Gespräche nach der Session mit Pedram Moghaddam (dein Feedback hängt nach, das Gespräch auch!), Kai Thrun und Sierk (Ich weiß deinen Nachnamen nicht mehr. Warum eigentlich nicht?). Übrigens Kopf, du kannst mich mal, denn: Da war tolles, dickes, grandioses Feedback bei. Sogar von einem Therapeuten. Für heute kannst du verschwinden und mich in Ruhe lassen! „Und was ist mit dem Ton von deiner Aufzeichnung?“ Verdammt! Ja! Nicht da! Danke an Anne für die tolle Illustration! Die bringt alles auf einen Punkt. Hab ich schon gesagt, dass ich ein visueller Typ bin? Kompliment, es passt super.

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Was bleibt jetzt übrig? Ich bin kaputt. Über 5 Stunden über mich, die Depression, euch und Depression und allem anderen zu reden, strengt an. Noch mehr strengt es an, mir den Kopf zu zerbrechen. Denken ist Arbeit. Sie macht müde. Und das bin ich jetzt. Aber glücklich. Sehr glücklich. Ich möchte es wieder tun. Egal wo. Ich möchte weiter darüber reden und mich nicht verstecken. Die Krankheit darf nicht versteckt werden. Redet mit mir. Und mit anderen. Und achtet auf euch, auf kleine Anzeichen und hakt es nicht den als lapidar ab …

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Feedback? Gab es …


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Danke an die tolle Orga des Barcamps, den Support, die Gespräche, das Catering und allen Sponsoren und Machern, die den Tag heute möglich gemacht haben! Ich bin erfolgreich entjungfert und angeleckt. Gerne mehr.

Eine Liste der ganzen Sessions findet ihr übrigens direkt beim Barcamp. Weitere Beiträge tauchen ja immer nach und nach auf. Zum Beispiel von Frank (Riedelwerk) mit Video. Oder von Oliver, der eigentlich viel zu kurz da war.

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2 Kommentare

  1. Danke! Danke für deinen Mut, Aufklärung über Depression und Suizid zu betreiben. Danke für diesen Beitrag, der mir zeigt, dass ich nicht alleine bin mit meiner Haltung, offen mit meiner Depression und dem Suizidversuch 2016 umzugehen. Wir müssen das Stigma brechen, um mehr Menschen den Mut zu geben, sich zu öffnen und Hilfe anzunehmen. Dein Beitrag war wertvoll. Das habe ich genau so auch 2016 auf dem Barcamp Stuttgart erlebt und werde deshalb dieses Jahr, genauer dieses Wochenende darüber berichten, wie es mir „zurück im Alltag“ ergeht, der sich für mich massiv geändert hat.

  2. Eigentlich ist es traurig, dass wir Betroffene so sehr um Verständnis kämpfen müssen.
    Wie oft hört man, „waaas er/sie hat sich umgebracht, Depression?? waaas man hat doch gar nichts bemerkt“
    …und dann gibt es da uns. Uns die Betroffenen – die den Mund aufmachen – die all ihren Mut zusammen nehmen und öffentlich kund tun, wie es uns geht… und was passiert… wir müssen weiter kämpfen.
    Manchmal erreichen wir doch wenige. Immerhin. Wenige, aber jemand damit erreicht.

    Darum hab ich angefangen zu Bloggen. Um Menschen zu erreichen! Betroffenen zu zeigen, sie sind nicht alleine. Ihnen zu zeigen, Mut lohnt sich. Wir sind da!

    Mein Umfeld allerdings, entfernt sich lieber, als zu versuchen mich zu verstehen!

    Traurig aber wahr.

    Dabei wäre es so einfach, für mich / uns dazusein! Oft genüg die Anwesenheit dieser Personen, die wir immer so sehr schätzten.
    ….aber sie gehen… sie gehen einfach weg…. und lassen uns zurück.

    Ich bin zur Zeit ziemlich kraftlos. Manchmal möchte ich aufgeben!

    Lächelnde Grüße
    Melle von Seelentief

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