Kontrollverlust!

Ich sitze auf der Terrasse der Pension. Es ist dunkel draußen. Auf der Uhr steht 00:09 Uhr. Der Cappuccino zieht gemächlich mit Rauchschwaden in die Nacht. Seit einer Stunde sitze ich schon hier. Es ist still. Ich rieche das Meer. Ab und an ruft eine Lachmöwe. Ich muss diese Stille genießen. Dieser Tag war schwer. Anstrengend, intensiv, sehr lang und wirklich schwer. Schlafen kann ich eh noch nicht, mir fehlt die Fahrt mit dem Auto nach einem Leseabend, damit ich runterkommen kann. Leseabende oder Vorträge sind intensiv. Sie sind kein Programm, das ich einfach mal abspule. Doch dieser Tag? War anders als andere. Er war lang. Er hat einiges von mir gefordert. Er hat mich Kraft gekostet. Und er hat mir etwas zu verstehen gegeben. Manchnmal zwingt dich das Leben solange darauf zu gucken, bis du es endlich verstehst – oder zumindest erstmal wahrnehmen kannst. Manchmal erinnert es dich auch nochmal kurz an die Lektionen, die du vorher schon hattest.

Die Aussicht auf das Wochenende konnte nicht besser sein. Eine Einladung nach Wyk auf Föhr. Der Termin steht seit Monaten fest. Die Vorfreude ist seit Monaten in mir verankert. Ich als Küstenliebhaber fahre nach Föhr. Traumhaft! Zwei Übernachtungen am Meer. Die Lesung in einer alten Mühle. Am Vorabend ist fast alles gepackt. Die Route ist geplant, alles durchdacht – wie immer. Ich habe einen Plan und die Zeiten im Kopf. Wie immer. Ich fahre selten planlos irgendwo hin. Meine Frau muss vormittags arbeiten, ich bringe unseren Sohn in die Krippe, bereite in der Wohnung alles für die Abfahrt vor, hole das Auto ab, packe alles ein, hole den Sohn wieder ab, wir machen uns reisefertig und dann ab auf die Autobahn, parken den Wagen, bekommen die Fähre um 17 Uhr, kommen 17.50 Uhr auf Föhr an, gehen 10 Minuten zu Fuß zur Pension, checken ein und ich gehe dann entspannt zum Leseort. Der Plan steht. Selbst die Tickets für die Fähre sind schon hier.

Der Wecker klingelt. Es ist 6.10 Uhr. Mein Wecker klingelt hier immer als erstes, weil ich früh in den Tag starten möchte. Die Freude ist nicht da. Stattdessen sitzt da dieses ungute Gefühl, dass das kein guter Tag wird. Dieses Bauchgefühl drückt eingehend mit einem: „Heute wird etwas passieren. Es ist nicht alles rund.“ Natürlich erfahre ich so nicht, was es ist. Die Gedanken kreisen im Takt eines Presslufthammers nur darum, was ich bis zur Abfahrt noch alles zu erledigen habe.

„Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.“ [Murphys Gesetz]

Das Frühstück klappt noch. Der Ablauf meinen Sohn ausgehfertig zu machen, hakt schon. Stress kommt auf. Zeitdruck. „Wie soll ich das alles schaffen?“, läuft in Leuchtschrift permanent vor meinen Augen lang. 8.05 Uhr, der Sohn ist ordnungsgemäß mit Fahrrad und Anhänger in der Krippe angekommen. Auto abholen. Murphy schlägt das erste Mal zu. Der geplante Wagen war nicht da. Er ist kleiner. Gefühlt kleiner. Ich weiß nicht, ob ich da alles so reinbekomme, wie ich es mir vorgestellt habe. Murphy dreht wahrscheinlich schon durch vor Freude. Und ich? Muss die Pille schlucken und das so annehmen. Der Fahrradanhänger. Der soll mit. Ich bau ihn direkt passend zusammen und dann schlägt Murphy das zweite Mal zu. Mein Handy fällt mir aus der Jackentasche auf den zarten Betonboden der Garage. Ich schwanke zwischen einem herzlichen Lachen und einem Tobsuchtsanfall. Ich würde auch beides gleichzeitig machen, aber dann bin ich wohl nicht mehr nur der „mit den Depressionen“ im Dorf, wenn die Nachbarn mich in der Garage sehen. Das Handy also. Gut. Es ist nur das Handy. Das Bauchgefühl passte zumindest.

Ich versuche runterzukommen und mache, was ich immer mache, wenn ich kein gutes Gefühl habe. Ich gucke mir die Staumeldungen an. Immerhin haben wir ne geplante Reisezeit von 3 Stunden 40 Minuten an einem Freitag mit Brückentag. Natürlich glaube ich, dass wir das auch so schaffen. Falls Stau sein sollte, hole ich die Zeit schon wieder rein. Schwarmstedt Stau. Hamburg Stau. HURRA! Die Verzögerungen passen noch. Ich plane die nächste Fähre ein. Dann sind 60 Minuten mehr Spielraum und ich komme trotzdem noch pünktlich. Vielleicht 5 Minuten vor dem Beginn, aber pünktlich. „Das klappt alles“, haucht mir der Optimismus ins Ohr und lässt im Bad gleichzeitig ein Utensilo mit scheiße viel Kleinkram fallen, NACHDEM ich das Bad sauber gemacht habe. Dinge, die ich jetzt einfach nicht gebrauchen kann. Auch nicht den verschütteten Kaffee in der Küche.

Der Zeitplan zu Hause passt. 12.30 Uhr sind alle reisefertig im Auto und wir starten. Endlich an die See. Die Ankunftszeit passt. Die Geschwindigkeitsbegrenzungen sind aufgehoben, der Verkehr fließt, wir fliegen los. „Wenn wir jetzt die 18 km Stau auf der Gegenseite hätten, wären wir ziemlich am Arsch.“ Ich fühle mich sicher. Der Plan geht auf. „… 7 km Stop an Go auf der A7.“ Auch das ist ok. Der Zeitverlust ist machbar. Der Stau hatte sich anderes überlegt. Hamburg eben. Kilometerlang schieben wir uns über den Asphalt, Sonne, Hitze, Kind. Die Ankunftszeit im Display verschiebt sich immer mehr nach hinten. Mittlerweile ist klar, ich werde nicht mehr pünktlich um 19.30 Uhr auf meinem Stuhl sitzen. Es ist klar, dass wir erst die Fähre um 19 Uhr bekommen werden. Der Kopf dreht durch. Er plant, er schickt Nachrichten, er organisiert. A7 dicht, A23 Pinneberg dicht. Selbst die 19 Uhr Fähre gerät in Gefahr. Ich schaffe es, die Ankunftszeit wieder in den grünen Bereich zu fahren. Zumindest für die 19 Uhr Fähre. Ich werde 45 Minuten zu spät ankommen. Der Supergau!

Auf der Fähre habe ich 50 Minuten Zeit. Zeit für Gedanken. Zeit, mir selbst wieder Vorwürfe zu machen, wie beschissen das alles geplant war und mir doch klar sein müsste, dass das an einem Freitag so nicht funktionieren kann. Mittlerweile bin ich das vierte Mal durchgeschwitzt. Ich habe so viele Abende gemacht und war noch nie zu spät. Ich hasse es. Ich hasse es, zu spät zu kommen. Ich sitze auf der Fähre und habe keinen Einfluss mehr darauf, wie schnell ich fahre, wo ich lang fahre, wann ich ankomme. Ich kann nur hier sitzen und aushalten. Aushalten, dass jemand anderes die Kontrolle darüber hat. Das ist schwer auszuhalten. Kontrollverlust. Ich kann nichts mehr steuern. Ich kann auch nicht steuern, wie schnell wir auf der Insel zur Pension gehen. Taxi funktioniert nicht, wir haben keinen passenden Kindersitz mit. Jedes mögliche Szenario durchdenke ich. Und doch habe ich keine Kontrolle darüber. Ich muss darauf vertrauen, jetzt nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Ich muss darauf vertrauen, dass noch Menschen da sind und auf mich warten. Ich muss da auf meine Fähigkeiten vertrauen. 20.20 Uhr, endlich an der Mühle. Durchgeschwitzt, fertig vom Tag, aber da. Es hat funktioniert.

Was will mir die Kontrolle sagen?

Kontrolle. Kontrolle ist eine Form von Macht. Ich übe die Kontrolle nur bei mir aus. Ich muss bei mir alles im Griff haben, das habe ich mir vor ein paar Jahren vorgenommen, als ich mir auferlegt habe, die Verantwortung für mich zu tragen. Ich suche also gezielt danach, die Macht über die Situationen zu haben. Ich bestimme die Reisewege, die Startzeiten, die Unterkünfte, die eventuellen Unternehmungen. Ich fahre in der Regel mit dem Auto, weil ich mich nicht von einem Zug abhängig machen will. Aber wirklich nur wegen den Verspätungen? Ich könnte ja auch eher fahren. Nein, heute merke ich, dass ich die Kontrolle brauche. Fahre ich mit dem Zug, gebe ich diese ab. Ich möchte, dass der Ablauf für meine Termine perfekt ist. War er nicht immer. Ich habe fast nie das getan, was ich tun wollte. Ich war nicht immer diese eine Stunde vor Beginn vor Ort. Das ist nicht schlimm, es hat ja bis dato gereicht. Kontrolle abgeben. Nicht perfekt sein. Keinen Einfluss mehr haben. Letztlich habe ich keine Kontrolle über alles. Es sind viel zu viele Variablen im Spiel, die es mir unmöglich machen, immer nach meinem Denken zu handeln. Diesmal war es ein Stau, der mich dazu gezwungen hat, nicht perfekt zu sein.

„Wer kontrolliert, bestimmt, wo es lang geht, und das bedeutet, du hast die Macht.“

Ich kann vieles in meinem Leben für mich bestimmen, aber Kontrollverlust? Muss Gründe haben. Warum möchte ich es so perfekt haben? Warum brauche ich die Bestimmung meines Lebens? Weil ich es auch andersrum kenne. Angst, fremdbestimmt zu sein. Angst, mit meinem Handeln nicht zu genügen und mir keine Fehler erlauben will, weil ich es „perfekt abliefern“ möchte. Angst, dass ich nicht den Erwartungen entspreche – auch wenn selten jemand eine für so einen Abend hat. Angst ist einfach das mangelnde Vertrauen in mein Leben und meine Handlung. Einfach? Ja. Es ist wirklich so einfach. Ich vertraue dem Leben nicht, weil es oft nicht gut für mich war. Ob nun selbst gemachtes Leiden oder irgendwelche Zufälle. Kontrolle bedeutet zwar Macht, aber es frisst auch die Energie. Ich möchte auch nicht wieder ständig von anderen kontrolliert werden, weil ich die Verantwortung übernommen habe. So sehr, dass ich sie ungern wieder abgebe.

Es ist spät geworden nach dem Abend. Alles hat funktioniert. Wie immer. Ich war zu spät. Na und? Das kann passieren. Ich kann ja nichts dazu. Ich darf auch loslassen. Manche Dinge sind eben, wie sie sind. Und ich weiß, ich habe nicht auf vieles Einfluss. Nicht bei solchen Termin. Ich kann nur dein Bereich beeinflussen, der mich unmittelbar betrifft. Loslassen. Ich werde damit noch etwas üben müssen, damit es auch in vielen anderen Bereichen meines Lebens funktioniert. Selbst zu entscheiden, wie ich in einer Situation damit umgehe, ist sogar ein großes Stück Freiheit. So viel Freiheit, dass ich mich gar nicht darauf einlassen muss, sondern akzeptieren kann. Negative Gedanken bringen mich nicht zur Lösung. Nur die strukturierte Denkweise, die ich vor den Problemen habe, die bringt mich weiter. Alternativ? Kann ich auch jederzeit die Situation verlassen. Ich hätte auf dem Weg aus dem Stau fahren können und den Abend absagen. Die Belastungen über den Tag waren für alle über dem Limit anstrengend. Natürlich sage ich nicht ab, weil ich wieder die Kontrolle aufgeben würde. „Es geht dir soweit gut, zieh das durch.“

Die Nacht ruft. Ich werde jetzt schlafen. Ich habe viel über mich gelernt. Über das Loslassen, den Perfektionismus und meinen Humor. Humor, weil mir das Leben immer wieder Situationen gibt, bis ich damit zurechtkomme und die Lektion verstehe. Vielleicht habe ich sie jetzt verstanden. Vielleicht muss ich nochmal dadurch. Ich habe gelernt, dass ich auch an solchen Tagen ein immenses Pensum abrufen kann und „funktioniere“. Die Grenzen haben sich verschoben. Jetzt? Rufen 1 1/2 Tage Strand, Wetter, Meer.


Was ich auch gelernt habe? Zeit ist wichtig. Zeit mit der wichtigsten Person deines Lebens. Mit dir. Ich mit mir. Zeit zusammen. Zeit für die Dinge, die uns umgeben. Gedanken, Ängste und Termine dürfen auch mal all das bleiben, was sie sind. Nicht wichtig. Vielen Dank an den Betreuungsverein Föhr-Amrum e.V. für die Einladung und diese lehrreichen Lektionen, die Gespräche am Morgen danach, den Abend in der Mühle und dieser kurzen Auszeit vom Alltag.

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4 Kommentare

  1. Super und vielen Dank für diesen schönen und lehrreichen Bericht. Es war so als ob ich in den Spiegel schauen würde.
    Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft und lehrreiche Stunden über dich.

    Viele Grüße aus Bayern
    Dimmi

      1. Bei mir ist es leider nicht so. Die Lektionen bekomme ich immer wieder aufs neue und dann schaltet sich irgendwann mein Unterbewusstsein wieder ein und sagt, da war doch was? Und alles wieder von vorne. Aber jeder Mensch ist Gott sei dank anders.

        Lieben Gruß
        Dimm

  2. Illusionen habe ich keine mehr, was solche Lektionen betrifft. Ich bin mir sehr sicher, dass immer wieder welche folgen werden und ebenso, dass ich immer wieder intuitiv so reagieren werde, wie ich es einstmals lernte. Die Änderung besteht darin, dass ich es sehr viel schneller merke und dementsprechend reagieren kann und damit bin ich inzwischen tatsächlich zufrieden.
    Warum?
    Das Leben wird mir immer wieder Nackenschläge verpassen, eben weil ich nicht alles kontrollieren kann, weil Dinge passieren, weil Menschen anders reagieren als ich vorher dachte, etcpp. Genau so funktioniert das Leben nunmal.
    Ich bin auch kein Roboter, ich werde nie perfekt sein, nichtmal nah dran. Weder für andere noch für mich selbst habe ich den Anspruch mehr es sein zu wollen. Jeglicher Versuch in der Vergangenheit, ja…sogar bei der Selbstfürsorge…perfekt sein zu wollen ging nach hinten los.
    Warum?
    Perfekt sein wollen, alles unter Kontrolle haben zu wollen artet in Stress aus, erzeugt einen Druck, dem ich nicht gewachsen bin. Der unwiderruflich zur nächsten depressiven Phase führt, oder sogar wieder zu Panikattacken.
    Ach ja…gern zeige ich dem guten alten Murphy auch mal den Stinkefinger und schmeiß ihm noch irgendwas hinterher, damit sich das aufräumen zum 2., 3. oder 4. mal auch wirklich lohnt… ;-)

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