Ich hab es vergessen …

Vergessen, was ich gerade eben noch machen wollte. Ich habe auch vergessen, wer gestern alles mit mir gesprochen hat. Vergessen habe ich auch, was ich heute unbedingt noch erledigen wollte. Ich habe sogar den Geburtstag von meinem Blog vergessen. Der 1.5., ein so simples und einfaches Datum, dass ich auch so gewählt habe. Im Februar habe ich dafür passend schon einen Beitrag angefangen, weil 5 Jahre doch ein kleines Jubiläum sind. 5 Jahre schreibe ich hier schon. Und heute darf ich sehen, was aus diesem „Tagebuch“, das nur Freunde gedacht war, geworden ist. Aus dem „Blogbaby“ wurde ein Junge, der immer mehr mitten im Leben steht. Und ich? Habe seinen 5. Geburtstag vergessen. Er ist schlichtweg in der Flut von Gedanken untergegangen. Tja. Happy Blogday to me, happy Blogday to me … da ist es wieder, dieses „verbockt“. Ich habe es mir fest vorgenommen und versaue es dann. Wie so vieles schon. Ich hänge an dem Gedanken fest.

Mein Kopf? Packt alles aus, was damit zu tun hat. Er zeigt mir die vier Blogprojekte, die ich im Leben schon mal angefangen habe und nach kurzer Zeit einfach wieder eingestampft. „Es ist doch die Wahrheit, du verbockst es doch immer“, sagt mir mein Gefühl. Ich merke nicht, dass ich jetzt schon seit Stunden daran festhänge, mich selber wieder hart in die Kritik zu nehmen. Nicht nur für den vergessenen Geburtstag – für alles, was nicht so rund läuft, wie es laufen soll. Vergessen zum Beispiel. Das klappt in der Regel sehr gut. Eigentlich könnte ich mich sogar dafür mit Lob überschütten, dass ich so viel vergesse. Ich vergesse auf Nachrichten zu antworten, irgendwas mit einzukaufen, die Wäsche anzustellen, die Blumen zu gießen, irgendwo anzurufen, einen Brief wegzuschicken, zu saugen, die Matten auszuschütteln, was aus dem Auto mitzunehmen, oder oder oder. Die Liste kann ich unendlich weiterführen. Alles unwichtige Dinge? Nein. Nicht nur. Ich kann auch super wichtige Sachen vergessen.

Erinnerungen sind ausgelöscht

Sie sind weg. Viel zu viele Erinnerungen aus der Kindheit sind einfach verschwunden. Ich habe wahrscheinlich alles verdrängt, weil ich mir mal vorgenommen habe, mit meiner Kindheit und den Menschen so abzuschließen, dass ich eben nichts mehr weiß. Bruchstücke sind noch da. Gute und schlechte Bruchstücke. Nichts davon tut mehr weh, aber ich würde gerne wieder etwas mehr von dem wissen, was ich erlebt habe. Ich habe mal den Aufruf an Wegbegleiter meines Lebens gemacht, mir Fotos von damals zu schicken und mir Anekdoten aus der Zeit zu erzählen. Ich möchte das wieder wissen. Alles. Der Aufruf hat heute noch Bestand! Sagt es mir, schickt es mir, teilt es mit mir. Ich möchte nicht mehr so viele dunkle viele Flecken haben. Ich brauche wieder Farbe im Leben. Traurig bin ich, dass mir das fehlt.

Vergesslichkeit, die im Rahmen von chronischen Erkrankungen auftritt, ist lange nicht mehr eine Symptom-Domäne bei Alterserkrankungen wie: Demenz oder Alzheimer-Krankheit. Zur permanenten Vergesslichkeit führen auch moderne Krankheitsbilder wie Burn-Out oder Essstörungen. Auch Zivilisationskrankheiten wie Alkohol- und Tablettensucht kann zu der auffälligen Vergesslichkeit führen. Vergesslichkeit ist auch ein Begleitsymptom bei psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder Schilddrüsenunterfunktion. Symptome einer bestimmten Krankheit zuzuordnen ist nicht immer leicht.

Viel zu oft ist mir das Vergessen schon begegnet. Heute weiß ich, dass ich in den Gesprächssituationen nicht bei der Sache bin. Ja, das kann Unkonzentriertheit sein. Das wäre die eine Seite. Weil ich mich ablenken lasse. Ablenken, von meinen nicht enden wollenden Gedanken. Die andere Seite? Ich habe gerade gar keine Wahl, bei der richtigen Sache zu sein, weil ich Gedanken habe, die mich beschäftigen und ich es nicht schaffe, den Fokus davon wegzubekommen. Für den Moment ist es viel wichtiger, an diesem Gedanken festzuhalten und alles damit verbundene auseinanderzudenken. Wenn ich es nicht zerdenke, dann halte ich doch wenigstens am Gedanken fest – so wie er mich. In diesen Momenten höre ich viel, aber ich speichere es nicht ab. Und nein, es ist nicht schön, wenn ich doppelt aufpassen muss. „Dann bleibt halt nur das Wichtige hängen“, wurde mir gesagt. Es wäre schön, wenn dann überhaupt was hängen bleiben würde. Es ist nicht schön, bei einem Kaffee in der Küche zu sitzen und über die Erlebnisse des Sohnes und die wichtigen Dinge der KiTa, Sport und anderen Dingen zu reden, aber es bleibt nichts hängen. Nichts! Und dann stehe ich hinterher dumm da. Ich vertusche das Vergessen, bin enttäuscht von mir selbst, fühle mich wieder schlecht. Hurra! Da ist wieder ein Gedankenkreislauf, direkt mal reinstürzen! DAS kann ich ja. Der Fokus ist also bei der falschen Sache. Wie oft es mir so geht? Kann ich nicht sagen. Zu oft. Viel zu oft. Eigentlich täglich.

Vergessen gehört dazu.

Auch wenn es mir nicht schmeckt, das Vergessen ist unweigerlich ein Teil des psychischen Erkrankung und nicht Desinteresse. Ja, auf der einen Seite gut, weil auch negative Sachen verschwinden können – ist aber oft nicht der Fall. Schlecht, weil ich eine Baustelle mehr habe, mit der ich arbeiten muss. Es sind irgendwie ganz schön viele Baustellen. Die Gefühle. Das Aufstehen. Die Körperpflege. Das Vergessen. Die sozialen Kontakte. Die Bewegung. Das Arbeiten. Das Handeln. Der Selbstwert. Der Mut. Die Kraft. Ehrlich? Es kotzt mich an. Wirklich. Ich will nicht vergessen, weil der Kopf auf Hochtouren mit anderen Dingen beschäftigt ist. Alles ist so zermürbend. Immer wieder. Jeden verschissenen Tag. Das macht keinen Spaß so! Egal, ob ich nun eine Baustelle bearbeite, dann leiden die anderen wieder und brüllen sich in den Vordergrund. Zu viele beackern, kostet auch immens Kraft.

Natürlich kann ich mich dem Frust hingeben. Natürlich kann ich mich auch darüber die ganze Zeit ärgern. Möchte ich aber nicht. Ich möchte ja vernünftig leben und das auch genießen können. Also? Brauche ich Mittel, mit denen ich jeden Tag arbeiten muss. Ich muss mich auf die Gespräche konzentrieren und mich dabei auch ermahnen, bei der Sache zu bleiben. Ich nutze Notizen, damit so wenig wie möglich hinten rausfallen kann. Ich nutze offensiv meinen Kalender, damit ich immer sehen kann, wann und was wichtiges ansteht. Ich setze mir Erinnerungen, die morgen aufploppen, damit ich Bescheid weiß – außer ich habe das mal wieder vergessen. Vergessen aufzuschreiben, den Alarm anzustellen oder den Termin zu machen. Und dann bin ich wieder frustriert, weil ich das Symptom nicht in den Griff bekomme. Es gehört dazu. Zu mir. Zu dem Teil der Erkrankung. Ich brauche mich dafür nicht zu schämen, ich versuche ja so gut es geht, damit umzugehen.

Trotzdem macht mir das Vergessen Angst. Angst, dass es immer so weitergehen wird. Angst, dass ich immer mit den Hilfsmitteln arbeiten muss. Angst, dass es vielleicht doch nicht Teil der Krankheit ist, sondern andere Auslöser hat. Jetzt fällt mir ein, dass ich Montag eine Mail verschicken wollte, mach ich nach dem Artikel hier. Und wisst ihr was? Wenn ich hier fertig bin, habe ich die Mail wieder vergessen – außer ich mache mir jetzt eine Notiz. Aber wahrscheinlich mache ich es dann eh nicht direkt, weil mein Sohn nicht schlafen möchte, will spielen, ich nochmal raus muss oder was anderes passiert. Dann heute abend. Oder … ich hab es wieder vergessen. Es ist ein Graus damit. Ohne Notizen bin ich aufgeschmissen. Immerhin kann ich die Autofahrten für viele Sprachnotizen nutzen. All das, was mir ein kreativen Krempel in den Kopf kommt, was ich toll finde oder unbedi … nee. Also ja, ich spreche sie, aber ich höre sie mir nicht an, weil da ja das Ding mit der eigenen Stimme ist. Diktiergeräte sind eine tolle Sache, heute sind es die Apps, aber ehrlich: Wer hat denn dauernd Lust, seine Gequatsche anzuhören? Zeit zum Schreiben ist bei der Fahrt nicht. Und so vergesse ich am Ende auch wieder all die Ideen, die mir so im Kopf rumschwirren.

Am Ende bleibt: Vergessen ist beschissen, aber ich habe Lösungen. Sie nerven mich manchmal sehr. Das Vergessen auch. Ich bleibe am Ball, ich geb nicht auf. Es ist ein Symptom, dass ich in den Griff bekomme.

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9 Kommentare

  1. Moin Markus,
    Ja, Sch… Situation für Dich. Immer wieder aufs Neue. Jeden Tag? Naja, annaehernd jeden Tag.
    Ich kenne das auch: man rotiert den ganzen Tag, versucht alles was man sich vorgenommen (oder was einem aufgetragen wurde) zu erledigen und dann kommt “so vieles” dazwischen.
    Das geht aber nicht nur Dir als Betroffener, als erkrankter Mensch so. Und es liegt auch nicht alleine mit daran, dass man in einer Beziehung zu zweit oder zu dritt oder zu viert lebt. Auch wenn man alleinstehend ist, dann faellt morgens der Startschuss und gegen Mittag stellt man dann fest, dass von allem, was man sich vorgenommen hatte, was auf der Taskleiste noch blinkend angezeigt wird und in Anbetracht der verbleibenden Zeit wohl dann eher morgen….
    Das letzte was ich moechte (und tun werde) ist Dir deine Erkrankung schoen reden, beschoenigend wirken. Mit der blinkenden Taskleiste kaempfen glaube ich, alle. Naja, fast alle.
    Es mag sein, dass Vergesslichkeit bei Erkrankten dazugehoert. Bei all dem, was einem der eigene Kopf den ganzen Tag an negativem einredet, mit lauter Stimme einzureden versucht, ist es aber – glaube ich — auch nachvollziehbar dass vieles Positive (das Bemuehen, doch die Kurve zu kriegen) niedergeschrieen, niedergekaempft wird.
    Und den fuenften Geburtstag deines Blogs ? Richtig, ich habe Dir da noch garnicht gratuliert. Gratulation also jetzt, Fuenf Jahre, da kannst Du stolz drauf sein ! :-)
    Aber da kommen sicherlich wieder die inneren Zweifel: stolz sein… ! Darf ich ? Soll ich wirklich ?
    Also, ich kann “das” auch nicht so richtig, wenn “das” an mich herangetragen wird, “Nun freu’ Dich doch ‘mal!” Und an die grosse Glocke haengen, mag es noch so sehr fuer einen selbst selbst wichtiges Datum sein…, nö, eher im Stillen, home alone, so für mich selber. Vielleicht. Oder vielleicht auch nicht.
    Was Dir helfen wuerde, wie ich es sehe faengt auch mit “V” wie Vergessen an: Verstaendnis. Oder Respekt. (Womit wir wieder bei deinem ersten Podcast waeren ! :) ) Verstaendnis, Respekt dafuer dass Du den ganzen Tag mehr oder weniger rotierst, dein Pensum versuchst zu erledigen.
    Vielleicht wuerdest Du dann, am Abend, an den meisten Tagen dann nicht ganz so besch..eiden fuehlen wenn tatsaechlich mal etwas unerledigt liegenbleibt, Du etwas vergisst und vergessen wirst.
    Verstaendnis und Respekt sind sicherlich keine Probemlösung alleine. Aber eine Grundlage allemal.
    Verstaendnis also. Und Respekt.
    Um es mit dem Schlusssatz deines ersten Podcast zu sagen: ich wuensche mir das. Fuer Dich.
    Liebe Gruesse !
    Uwe

  2. Und wieder habe ich zeitweise in einem Spiegel geschaut. Zu den Geschehnissen von früher, mir interessieren die nicht mehr, hinter mir ist eine dicke Mauer. Ich erinnere mich auch nicht an meine Kindheit mir ist das aber egal. Mein Unterbewusstsein hat dies ausgeblendet.
    Anyway jedem Menschen sein leben.
    Mit Kalender arbeite ich auch :)))
    So nun bis bald und eine gute Zeit wünsche ich dir.

    Liebe Grüße aus Bayern
    Dimmi

  3. Dass meine Vergesslichkeit ein Symptom der Depression ist, habe ich mittlerweile akzeptiert. Zumal es meistens keine wichtigen Dinge sind, die sich wieder verflüchtigt haben. Das hoffe ich jedenfalls, denn da ich sie vergessen habe… Nur das Abschweifen in Gesprächen macht mir zu schaffen. Wenn meine Söhne oder Freunde mal wieder sagen, dass sie mir dieses oder jenes doch erzählt hätten und ich mich schwach erinnere, dass wir vor Tagen oder Wochen darüber sprachen, dann frage ich mich, warum ich das vergessen habe. Häufig bemerke ich das Abschweifen während der Unterhaltung, dann versuche ich zu ergründen, warum ich nicht bei der Sache bleiben kann. Und natürlich bin ich, während ich darüber nachdenke, noch weiter weg als zuvor. Viele Gespräche ermüden mich auch. Das betrifft überwiegend Situationen im Berufsleben oder belanglose Plaudereien mit Nachbarn oder Bekannten. Da schalte ich immer öfter ganz bewusst ab. Die Depression hat nicht nur schlechte Seiten. Sie, oder besser die Therapie, hat mich auch gelehrt, wie wichtig dieses Abschalten sein kann. Nun versuche ich gerade, den wichtigen Gesprächen konzentrierter zu folgen.

  4. Hey Markus,
    ich glaube nicht, dass du so viele Erinnerungen aus deiner Kindheit wirklich vergessen hast. Ich denke, die Verdrängung ist eher so wie die erste Phase der Trauer und deine Suche nach diesen Erinnerungen ist quasi die dritte Phase der Trauer. Du suchts um loslassen zu können. Vielleicht bist du bis jetzt aber nur teilweise bereit dazu, oder du hast noch irgendeine versteckte Angst in deinem Unterbewusstsein verankert. Was auch immer. Je intensiver du suchst, desto mehr stehst du dir dabei im Wege die Erinnerungen wieder zu finden.

    Aus Erfahrung kann ich dir versprechen, dass alles was du jetzt verzweifelt suchst von allein wieder kommen wird…sobald du soweit bist. Das wird sein, wenn alles was dein Kopf schon weiß endlich auch in deinem Bauch angekommen ist, wenn Verstand und Gefühl sich endlich vereinen.

    Ich finde es überhaupt nicht schlimm mit Hilfsmitteln wie Kalender oder Notizen zurecht zu kommen. Im Gegenteil…beweist doch nur, dass man sich kreativ zu helfen weiß, oder? ;-)

    Was wirklich nervt ist, wenn man Gesprächen nicht folgen kann, weil die Gedanken sich irgendwo festgebissen haben. Das ist das Ding mit dem ich persönlich am meisten hadere. Sich dauernd entschuldigen, dass man grad sehr unkonzentriert ist, weil…etcpp… herrje…wer entschuldigt sich denn bitte schön dafür, wenn er grad ne fiebrige Erkältung hat? Dafür ist mir wirklich noch keine positive Betrachtungsweise eingefallen.

    Ich lass dir mal einen Sack Knuddel hier…so zur Selbstbedienung, wenn du grad einen benötigst.. ;-)

    Liebe Grüße von Petra

  5. Vergessen ist richtig beschissen. Ich glaube jedem, der regelmäßig wirklich wichtige Dinge vergisst, geht es so. Sei es jetzt krankheitsbedingt oder weil es zum Naturell gehört. Was immer besonders ernüchternd ist, wenn die Dinge einfach weg sind. Du nicht mal mehr weißt, dass da etwas war und du nicht weißt, dass du etwas vergessen hast. Aber irgendwann kommt dann eine Mail, ein Anruf oder eine Nachricht und dir wird bewusst: verdammt, da war was. Und es hört sich fast an wie eine neue Information für dich. Sei nicht so streng mit dir wegen deiner „Hilfsmittel“, sie wollen dir ja nichts böses oder sind ein Armutszeugnis, sie sollen einfach helfen.

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