Die Macht der Gefühle

Sieben Therapiestunden sind jetzt vorbei. Ja, Therapiestunden. Ich bin seit Mitte November wieder in einer Verhaltenstherapie. Ein Jahr nach meinem Vorgespräch in der Praxis. Mein Therapeut hat sein Wort gehalten. Ich muss bei ihm mehr schreiben als reden. Natürlich habe ich mich im Vorfeld damit zufrieden gegeben und geglaubt, dass es besser ist. Schreiben ist ja eh eines meiner Handwerkzeuge. Wie viel ich schreiben muss, konnte ich mir nicht vorstellen. Es ist die siebte Therapiestunde. Es gibt keine Anmeldung. Wenn ich die Praxisräume betrete, setze ich mich einfach auf einen der freien Stühle – eigentlich sind seine Stühle immer frei – vor seinem Zimmer. Und warte. Solange, bis er aus einem der anderen Räume kommt und mich fragt, ob wir starten wollen.

„Wenn Sie soweit sind, fangen Sie einfach an.“ Keine Frage nach meinem Befinden. Keine einleitenden Worte. Kein Smalltalk. Nichts. Einfach anfangen, wenn ich soweit bin. Womit? Mit meiner Hausaufgabe. „Sie werden das sowieso noch länger falsch machen“, tönt es noch in meinem Kopf. Recht hat er. Nach 24 Beispielen für meine Hausaufgabe, mache ich noch immer Fehler. „Machen Sie sich nichts draus, dafür sind Sie hier und so einfach ist es eben nicht.“ Ob mich das beruhigt? Nein. Ich muss jegliches Anspruchsdenken ablegen. Ich mache es noch falsch und ich bin bei ihm, um das zu lernen.

Kennst du Gefühle?

Gehen wir nochmal zurück in den November. Die erste Schreibübung. So nebenbei. „Schreiben Sie doch mal kurz alle Gefühle auf, die Sie kennen.“ „Geil, das kann ich“, hab ich nur großkotzig gemurmelt. Nach über 30 Begriffen und jeder Menge Stolz, weil ich so viel wusste, kam die Enttäuschung. Der Großteil davon sind Bewertungen und keine Gefühle. Einsam, allein, übersehen, gefangen, eingeengt – das sind als Beispiel keine Gefühle. Es sind Bewertungen. Es ging also schon gut los mit diesen Fehlern und Rückschlägen.

Der Mensch kennt also nur 6 wirkliche Gefühle. Ärger, Trauer, Angst, Freude, Ekel, Neugier. Alles andere? Sind Bewertungen. Das macht einiges etwas klarer. Dennoch nicht einfacher. Wenn das alles nur Bewertungen sind, was kann ich damit jetzt anfangen? Ich fühle mich überfordert und weiß nicht, wie ich das bei mir einordnen soll.

Ich bekomme das nächste Arbeitsblatt. Bewertungen. Sprechen wir also darüber, wie ein Gefühl entsteht. Wie? Ist mir klar. Das habe ich lange genug geübt. Ich habe eine Situation, die ich in meinem Wertesystem automatisch einstufe und damit ein passendes Gefühl. Gefühle sind in meiner Welt aber oft negativ behaftet. Ich kenne es ja nicht anders. Entweder wurden sie gar nicht erst wahrgenommen, oder sie wurden abgewertet. Mit all den anderen Glaubenssätzen und Strategien, habe ich mir ein großes Netz an destruktiven Denkweisen geschaffen – die ich oft auflösen kann, aber in schlechten Phasen nicht hinbekomme, weil es zu erdrückend ist.

Und jetzt? Ist es meine Aufgabe, in jeder Stunde zwei positive Momente rauszusuchen, diese Objektiv zu beschreiben und so weiter. Positive Momente in negativen Phasen. „Sie werden das eh eine Zeit lang falsch machen.“ Na, wunderbar! „Dafür sind Sie ja hier. Damit Sie es lernen.“ Na wunderbar. Ich verbringe meine Zeit also damit, zwei positive Momente zu finden, die auseinander zu pflücken, um dann zu hören, dass es falsch ist. NA WUNDERBAR! Um dem Ganzen auch noch die Krone aufzusetzen, darf ich zwei Beispiele zu Hause als Aufgabe machen und beim nächsten Mal mitbringen. Hausaufgaben! Ich bin 37, in einer Verhaltenstherapie und Erwachsen. Ich bin nicht 17, 10. Klasse Realschule und kurz vor dem Abschluss. HAUSAUFGABEN! Nicht nur, dass ich sie machen muss, nein, ich muss sie auch in der nächsten Stunde vorlesen.

Hat es einen Sinn?

Ich merke schon, selbst da kommt gerade eine Emotion hoch. Eine, an die wir heranwollen. Ich höre mich schon selbst fragen: „Was macht das mit dir, Markus? Warum reagierst du gerade so angespannt auf die Situation?“ Ich seufze, ich nicke, ich nehme es jetzt so hin. Je mehr ich über die Aufgaben fluche, desto interessanter werden sie. Ich fange an, mich selbst zu fragen, welches Ziel er verfolgt, dass wir hier positive Momente suchen. Also ich. Ich muss ja suchen. Nicht er. Es liegt ja auch auf der Hand, warum ich so reagiere. Im Moment bin ich es gewöhnt, negativ zu denken. Sogar nach dem Negativen an manchen Ecken zu suchen. Und jetzt darf ich lernen, den Fokus auf das Gute zu richten, meine Gefühle zu ändern und mir bewusster machen.

Hausaufgaben

Also sauge ich mir Antworten und Momente aus den Fingern, die mir selbst schon etwas suspekt vorkommen. Ich fange an zu suchen, weil mir spontan nichts einfallen will. Ich bin zwischendurch unkonzetriert, weil meine Gedanken woanders hin wollen. „Die Aufgabe! DIE AUFGABE, MARKUS“, schreie ich mich selbst in Gedanken an. „Ja, doch verdammt. Ich werde eh wieder an B2 scheitern.“ 24 Übungen später erschließt sich mir das System dahinter, aber ich muss immer noch länger über B2 nachdenken. Ich mache mir Notizen zu den Korrekturen. Ich lese es nochmal und höre wieder den Therapeuten: „Machen Sie sich nichts daraus, die nächsten sind bestimmt auch falsch. Es ist nicht einfach, auch wenn es so aussieht.“


Wenn wir unter einem Gefühl unangemessen leiden, können wir dies beenden, indem wir die Bewertung ändern, die dazu führten.

Harlich H. Stavemann

Ich könnte hier sicher ein paar Dialoge einfügen, in denen ich fluchend da gesessen habe und mich über mich geärgert habe. Die Aufgabe hat drei Teile:

A | Sachliche und objektive Beschreibung der Situation.

B | Alle bewussten und verdeckten Gedanken zu A.
1. Was sehe ich mit meinem Wissen und Werten in der Situation A?
2. Wie interpretiere ich das? Welche Konsequenz vermute ich?
3.
Bewertung: Wie finde ich das?

C | Gefühls- und Verhaltenskonsequenz aus A.
1. Welches Gefühl habe ich nach B?
2. Was genau tue ich daraufhin?

Ob das Spaß macht? Nein. Mich nervt es wahnsinnig, dass ich immer wieder über B2 stolpere. Über das, worüber ich mich in der Situation wirklich freue. 24 Situationen habe ich jetzt auseinander genommen. Und ich habe wieder 2 Stück als Hausaufgabe. Wir sehen uns am 09.01. wieder und ich bin gespannt, wann ich diese Aufgaben mache.

Hilft es nicht?

Eine sehr gute Frage. Doch. Es hilft schon, mir manche Situationen nochmal bewusst vor Augen zu führen und stolz zu sein. Oder Freude zu empfinden. Oder, oder, oder. In den Alltag bekomme ich es nicht integriert. Das Ziel darf ja werden, dass ich die negativen Gedanken erkenne, auflöse und dafür ein Zielgefühl finde, was ich durch die Übung erreiche. Herrje. Das klingt so unsagbar fachlich und weit weg von mir selbst. Und doch geht es genau darum. Das Therapiegequatsche zu einer Normalität werden zu lassen, weil ich nicht mehr 3 oder 6 bin, sondern 37 und mein Leben lang schon mit den falschen Mustern gelebt habe.

Leben scheint also auch ein ständiges Üben mit mir selbst zu sein, damit ich am Ende liefern kann. Liefern? Na klar. Das ganze soll so automatisch funktionieren, wie ich heute einfach in die Selbstwertfalle springe. Liefern heißt ja nur, dass ich etwas wie von selbst mache. Wie Autofahren zum Beispiel. Wenn ich an meine erste Fahrstunde denke, das erste Mal fahren, kuppeln, schalten, blinken, gucken. Ich war überfordert. Heute sitze ich im Auto und all die Sachen passieren wie von allein. Entscheidungen in Bruchteilen einer Sekunde und abliefern. Kann das nicht auch so mit den Gedanken laufen? Ich denke ja. Es bleibt aber auch ein stetiges Üben mit den Aufgaben. Mit mir. Und immer nur zwei als Hausaufgabe, damit sich nicht der Fehler manifestiert, den ich mache – ich mache es ja immer noch falsch – sondern die Korrektur und das Gute.

Ein neues Handwerkszeug. Und ich habe wirklich geglaubt, dass es einfach wird – egal, wie viel Erfahrung ich mit der Therapie habe, wie viele Gespräche ich mit Fachleuten geführt habe oder für mich selbst erkannt habe. Einfach ist die Übung nicht. Es ist auch nicht einfach zu wissen, dass ich ständig Fehler in der Übung mache. Macht. Macht meiner Gefühle. Die negativen haben noch viel mehr Macht über mich, als ich es mir vorstellen konnte. Jetzt sind sie es noch, die so automatisch über mich herfallen.

Wir reden also nicht viel. Das ist ok. Ich schreibe, ich lese vor, er fragt, ich antworte, er erklärt, ich korrigiere. Im Januar wieder. Ich werde auf dem Stuhl vor seinem Zimmer sitzen, reingehen und er wird sagen: „Wenn Sie bereit sind, legen Sie los.“ Keine Frage nach meinem Befinden. Nichts.

Auch interessant ...

8 Kommentare

  1. Ja,Therapie ist soooo anstrengend… …ich selbst mache eine Tiefenpsychologische Therapie, hinterfrage sie permanent.ich weiss auch nicht…..
    Danke,dass du deine Gefühle so gut in Worte fassen kannst,empfinde ich für mich hilfreich….ich habe Schwierigkeiten, Gefühle zu erkennen und zu benennen… Danke

  2. Danke dir fürs Teilen deiner Therapiererfahrungen. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich Therapeuten arbeiten und spannend zu lesen, was andere in ihrer Therapie so machen.

    1. Ich hoffe zumindest, dass alle Therapeuten im Vorgespräch über ihre Arbeitsweise sprechen. Nicht alles passt ja zu jedem. Wäre es mein erster Therapeut, wäre ich heute wahrscheinlich schon nicht mehr da, weil mir die reine Schreiberei auf den Keks gehen würde.

      1. Servus,deine Ausführungen über deinen derzeitigen Therapeuten und den Anfang der Sitzungen,erlebe ich auch zu Anfang meiner Therapiestunden.Kein fragen nach dem befinden ,kein nachfragen was sich seit der letzten Sitzung bei mir getan hat ,geschweige denn Interesse an meiner Person. Ich finde das ist entweder Methode, will der mich provozieren oder Unfähigkeit zu Emphatie.
        Dann nickt er in mitten der Sitzung auch noch ein.
        Der Therapeut lässt mich die ganze Sitzung über sprechen gibt nur selten Kommentare von sich.Wenn mich Tränen schütteln reicht er mir lediglich ein Taschentuch.Ich hab noch 2 Sitzungen dann bin ich fertig.
        Ich bin zwar froh darüber jedoch weis ich dann wieder nicht mit wem ich über meine Probleme sprechen kann.

  3. Hallo,

    vielen Dank, dass du deine Erfahrungen mitteilst, ich glaube es wäre so wichtig, dass die Menschen offener über ihre Probleme sprechen und fühlen könnten, dass sie damit gar nicht allein sind…

    LB

    Rita

  4. Stavemann… Den les ich auch gerade ? Mal innere Kind Arbeit probiert. Schmerzhaft l, aber lohnt sich. Alles Gute und Danke.

  5. Ich sitze jetzt gerade im Wartezimmer und dieser Beitrag hat mich so zum Lachen gebracht. Warum? Ich habe mich selbst völlig erkannt und bin irgendwie erleichtert nicht allein zu sein. Ich bringe mich mit den ABCs fast jede Sitzung auf die Palme, einfach aus Überforderung und Angst es nicht korrekt zu machen. Na, welcher Problemtopf ist es wohl :)

  6. Ich finde es unangenehm in den Kategorien richtig und falsch zu denken. Ein Gedanke ist eine Momentaufnahme und damit auch ein Gesamtkunstwerk. In den ersten Momenten danach ist er fremd und entwickelt eine gehörige Tristesse. Aber ihn zu verwerfen, macht einsam. Könnte er doch Teil eines Gebäudes sein, das Geborgenheit schafft. Ein bisschen innerer Abstand und schon ist wieder genug Liebe da, um ihn zu integrieren. Ich sammle einen Großteil meiner Gedanken seit 1999 und war anfangs mein unbarmherzigster Kritiker. Inzwischen fühle ich mich zum Glück weniger zerrissen. B2 ist immer wieder Einladung und nicht mehr als das. Diese Einladung lohnt aus einer gewissen Stabilität heraus, um die eigene Handlungskompetenz zu hinterfragen und jegliches Draußen auszublenden, um wieder bei mir selbst anzukommen. Ich wünsche dir immer wieder ausreichend Schutz vor dem Wort falsch. Das macht Situationen austauschbar.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert